Sonntag, 2. Juli 2017

Grenzorte

Tausendmal hatte er während all der schlaflosen Stunden von diesem Moment geträumt, Tag und Nacht das Liebeslied im Kopf: Milena, geliebte Milena. Auf der Fahrt von Prag hierher in diesen Ort an der Grenze bis zur letzten Sekunde die bange Frage. Wird es wahr werden? Wird der Zug aus Wien seine Liebste bringen? Er hatte sich schon vorgestellt, wie er unter den Aussteigenden zunächst diese kleine Frau im roten Seidenkleid, ihren lieblichen Lockenkopf und ihr unvergleichliches Lächeln entdecken würde, dann auf sie zueilen, ihr Gesicht in beide Hände nehmen, unentwegt in ihre Augen blicken, sie auf den Mund küssen, seinen Arm um sie legen, sie um das Bahnhofsgebäude herumführen, zusammen mit ihr die Gleise überqueren und Hand in Hand mit dieser geliebten Frau hinaus in das freie Feld gehen würde. 
Nun lagen sie nebeneinander auf der Spätsommerwiese, hörten aus einiger Entfernung das schwere Stampfen einer Dampflokomotive und beobachteten von ihrem Platz auf der leichten Anhöhe, wie schwarzer Rauch sich langsam in der blauen Weite auflöste.
„Hattest du eine gute Reise, Milena?“
„Ich konnte es kaum erwarten, dich wieder zu sehen, Frank.“
„Was hast du deinem Mann gesagt?“
„Er war gar nicht zu Hause.“
“Mal wieder?“
“Ernst und die Frauen, ein Kapitel für sich. Du kennst ihn doch.“
„Armer kleiner Engel, warum tut man dir das an?“
„In deiner Nähe bin ich reich, Frank.“
„Du gehörst geliebt, Milena, geliebt und behütet.“
Sein Gesicht über ihrem Gesicht, er konnte sich nicht satt sehen, so zauberhaft der Anblick. In diesen Augen versinken wie ein Kieselstein im Wasser, bis ganz tief unten in den weichen Sand auf dem Meeresgrund. So musste es bei der Mutter gewesen sein, als er ein kleiner Junge war. Aber er war ein fast vierzigjähriger Mann und Milena nicht seine Mutter. Sie war anders. Ein loderndes Feuer war diese Frau. Ihre Lippen süß wie dunkelroter Wein. Er konnte nicht aufhören sie zu küssen. Ihr gebräunter Körper bebte, als er ihr zaghaft das Kleid von der Schulter zog. Ganz nah wollte er ihr sein, eins sein mit ihr, halb wahnsinnig vor Verlangen. Ihre Hand in seinem Haar, so sanft, so unnachgiebig zärtlich, ihr Bein sich unter seinen Körper windend, dann ihr Becken, begehrend. Eng umschlungen bewegten sich ihre Körper und rollten ein Stück weit die Anhöhe hinunter bis zum Ende der Wiese. Sie stöhnte, drängte, wollte alles, wollte ihn. ‚Ich kann nicht’, hämmerte es wild in seinen Schläfen. Abrupt löste er sich aus ihrer Umarmung, setzte sich auf und vergrub den Kopf in den Händen.
„Ich kann nicht.“ Er versuchte, den quälenden Hustenreiz zu unterdrücken.
Milena war aufgesprungen und rückte ihr Kleid zurecht.
„Frank, ich möchte schreien. Wie soll ich das verstehen?“
„Verzeih mir, Milena, es ist meine Schuld.“
„Was redest du für einen Unsinn? Kein Wunder, dass du husten musst.“
Sie setzte sich neben ihn und strich mit der Hand über seinen Rücken, bis er wieder ruhig atmen konnte.
„Wovor hast du Angst?“
Vom Wiesenrand knickte er eine Kleeblume ab und drehte den Stiel in der Hand.
„Warum hab ich dich hinuntergezogen in diese Hölle?“
“Wie meinst du das?“
„Ich bin anders, Milena, fremd, bin mir ja selbst fremd. Das macht mir Angst.“
„Nein und noch mal nein, Frank. Mir bist du nicht fremd. Du bist mir so nah wie sonst niemand auf der Welt.“
„Ich weiß“, sagte er leise. „Du bist ja auch anders. Ein Schatz bist du, unvergleichlich wertvoll. Doch ich hätte dich nicht drängen sollen, hierher zu kommen.“
„Habe ich nicht selbst entschieden, diese Reise zu machen? Ich fühlte mich keineswegs von dir gedrängt. Doch vielleicht ist es meine Schuld. Bedränge ich dich zu sehr?  Macht meine Anwesenheit dich krank?“
„Milena, jetzt redest du aber Unsinn. Denk doch an unsere Wiener Tage, ein paar Wochen ist das erst her. War ich einen Moment lang krank in deiner Gegenwart?“
„Nein, dir ging es wunderbar. Tag und Nacht waren wir zusammen, sind stundenlang gelaufen. Berge, Wälder, Schatten und Sonnenschein. Wie schön das war. Kein einziges Mal hast du gehustet. Alles war so klar.“
„Ja, das war es, Milena, klar und schön.“
„Warum ist jetzt alles anders? Was ist passiert in den wenigen Wochen?“, fragte sie.
„Ich hätte Wien nicht verlassen sollen ohne dich, Milena. Warum habe ich dich nicht mitgenommen nach Prag?“
Sie legte das Kleid über die angewinkelten Beine und verschränkte die Arme vor den Knien.
„Du bist ein Träumer, Frank“, seufzte sie.
Vor seinen Augen drehte sich die Blume wie eine rote Kugel. Behutsam legte er sie auf die Wiese.
“Unsere Träume sind kalt geworden wie die Spätsommersonne“, sagte er und hatte auf eine Weise recht. Die Sonne war mit einer Wolke davongezogen. Kühle hatte sich im feuchten Gras ausgebreitet und streifte an ihren Körpern hoch. Ein Hauch von Herbst lag in der Luft, nach einem Sommer, der eigentlich der Anfang für einen neuen Frühling werden sollte.
“Es riecht nach Abschied“, sagte er traurig.
„Ich könnte heulen, Frank. Was macht uns so ratlos?“
„Der Kälte können wir nicht entfliehen.“ Er griff nach der Taschenuhr und klappte den goldenen Deckel auf.
„Warum haben wir keine Chance? Woher kommt die Kälte?“
„Woher nur?“ Er strich mit dem Daumen über das Ziffernblatt, klappte den Deckel zu und schob die Uhr zurück in die Hemdtasche. „Jedenfalls können wir nichts dagegen tun. Gehen wir zum Bahnhof. Wenn wir uns ein wenig beeilen, erreichst du noch den Abendzug nach Wien.“
Er stand auf, nahm ihre Hand und half ihr hoch. Dann gingen sie den Weg zwischen den Feldern zurück.
“Liebst du ihn, Milena?“
“Ich liebe dich, Frank.“
“Und morgen fährst du mit ihm an den Wolfgangsee.“
“Was sollte ich denn tun?“
„Ach, Milena! Du stellst Fragen.“
„Ich schreibe dir dann aus St. Gilgen.“
Schreibe mir nie mehr, wollte er sagen, schwieg aber und führte sie über die Gleise, um das Bahnhofsgebäude herum auf den Bahnsteig.


Kurzgeschichte aus: Grenzorte


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