Montag, 18. Januar 2016

Du hast mir gar nix zu sagen



Seit der Kölner Silvesternacht denke ich an grinsende Monster mit Krakenarmen. Eine ganze Horde dieser Fieslinge kreist eine Frau ein, grapscht ihr an Busen und Po, zerrt an ihrer Kleidung, reißt Jacke und Bluse auf, versucht ihr die Hose runterzuziehen, schafft es sogar, klaut ihre Tasche mit Handy ... bis endlich ein Mann kommt und sie rauszieht aus dieser Hölle. Dieser Horror ist in jener Silvesternacht nicht nur Frauen in Köln passiert, sondern auch in Hamburg, Stuttgart, Frankfurt, Bielefeld, Essen, Dortmund, Hamm und in vielen anderen Städten. Als ich höre, dass die überwiegende Anzahl der Täter aus Kulturkreisen kommt, in denen Frauen als Dreck betrachtet und wie Dreck behandelt werden, muss ich unwillkürlich an einen meiner Schüler denken.

Es ist etliche Jahre her, seit ich jeden Tag zum Gelände des alten Rittergutes fuhr, wo ich in der dort angesiedelten Jugendpsychiatrie als Lehrerin arbeitete. Und es ist noch länger her, als der fünfzehnjährige Reza in meiner Schülergruppe saß. Ein Richter hatte ihn nach dem Prinzip „Therapie statt Strafe“ in die Psychiatrie eingewiesen. Und so landete er bei mir. Reza verweigerte jegliche Mitarbeit und machte, was er wollte. Gespräche mit seinem Therapeuten liefen ungefähr so:

Ich: Wir müssen über Reza reden.
Er: Ja, klar, wir müssen über jeden hier reden
Ich: Klar, aber jetzt geht es um Reza. Ich weiß nicht, wie ich ihn beschulen soll.
Er: Ach.
Ich: Er hört nicht auf mich, das heißt, er macht meinen Unterricht kaputt.
Er. Versteh ich nicht. Was macht er denn?
Ich: Nichts macht er. Jedenfalls nichts, was mit Deutsch, Mathe und Englisch zu tun hat.
Er: Dann rede doch mal Tacheles mit ihm.
Ich: Ja, klar. Was glaubst du, was er dann sagt?
Er: Na, was denn?
Ich: Du hast mir gar nix zu sagen.
Er: Dummer Spruch.
Ich: Jedenfalls kann ich so nicht mit Reza zusammenarbeiten. 
Er: Ach, ach.
Ich: Es ist dein Part, Jochen. Schließlich hat er Auflagen.
Er: Ach, ach, ach.
Ich: Knast statt Therapie.
Er: Aber...
Ich: Nix aber. Der tanzt uns doch allen auf der Nase herum. 
Er: Nun habt euch mal nicht so. Das ist eben diese orientalische Mentalität.

Kurz danach war Reza nicht mehr in meiner Lerngruppe, ich weiß nicht, welche Kollegin oder welcher Kollege sich dann mit ihm herumärgern musste, es war ja ein Kommen und Gehen in der Psychiatrie.

Ja, und seit der Kölner Silvesternacht spukt er wieder bei mir im Kopf herum und der dämliche Spruch seines Therapeuten: „Das ist eben diese orientalische Mentalität.“


© Renate Hupfeld 01/2016

Montag, 4. Januar 2016

Neues Projekt





Hat mich jemals etwas so durcheinander gebracht wie die Botschaft, dass du da bist? Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich ratlos, vierzig Jahre alt und ratlos. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.
Du oder er? Eine Frage, auf die ich gut verzichten könnte, die vielleicht völlig abwegig ist und  längst beantwortet wäre für mich, sollte sie sich denn stellen. Und dennoch fühle ich mich jetzt in der Situation, dass ich mich das fragen muss, ohne es zu wollen, ohne es jetzt zu wollen, schicksalhaft mit dem Dilemma konfrontiert.
Du oder er?
Es war ein ausgesprochener Glückstag, als ich ihm begegnete, ein unerwarteter Lichtblick, nachdem das Thema ‚Männer’ für mich längst abgehakt war. Männer! Ich war nämlich davon überzeugt, sie nützten nicht, sondern schadeten mir nur. Kurz gesagt, ich brauchte sie nicht und war überzeugt, es käme keiner mehr an mich heran. Das klingt hart, doch nach meinen Erfahrungen musste ich das so sehen. Männer in meiner Nähe bedeuteten jedes Mal eine Katastrophe. Misstrauen, Kampf, Verletzungen. Immer das gleiche Theater, wie verhext.
Macht gar nichts, wenn du das noch nicht verstehst. Wie solltest du auch?
Jedenfalls hatte ich irgendwann mein Motto klar: ‚Keine Männer, keine Tränen’.
Und dann kam er, wie ein Geschenk des Zufalls, und mit ihm die Erleuchtung, dass ich mich wohl geirrt hatte. Es gab Ausnahmen, zumindest diese eine, das musste ich mir eingestehen. Denn mit ihm erfuhr ich, dass es auch anders ging, mit Vertrauen und Liebe. Und, wie gesagt, dieses Glück kam völlig überraschend. Plötzlich stand er mir gegenüber und fragte: „Was machen wir jetzt?“
Jetzt, das war der Moment, an dem die meisten aus unserem kleinen Grüppchen ihre Skier auf die Autos gepackt hatten und abgereist waren, zu ihren Klausuren, an ihren Schreibtisch im Büro oder zu ihrer Arbeit in Haus und Küche. Alle waren unterwegs nach Hause, außer uns zweien. Wir waren übrig geblieben und standen nun auf unseren Brettern am Platz neben dem Ausstieg, wo wir uns tags zuvor noch mit den anderen versammelt hatten, bevor es auf die Piste ging. Jetzt nur wir zwei. Er und ich. Wir hatten noch einen Tag Zeit, einen ganzen Tag. ‚Was machen wir jetzt?’ Was für eine Frage! Wir waren doch schon oben angekommen, an der höchsten Stelle, von der wir die beste Aussicht über das ganze Winterland hatten. So bizarr die Farben und Formen, so schroff und so sanft. In der einen Richtung der felsige Lange, daneben der etwas kleinere Bruder und zwischen den beiden eine Scharte, die Jahr für Jahr einigen waghalsigen Skifreaks zum Verhängnis wurde, und zur anderen Seite hin der Blick auf die schneebedeckte Passstraße mit dem gemütlich rauchenden Schornstein auf dem Rasthaus, an dem hin und wieder ein Auto anhielt oder ein anderes mehr oder weniger  schleichend vorüberfuhr. Und ganz rechts der Blick hinunter über steile und sanfte Skihänge bis zum Wald und darüber hinaus auf die weißen Dächer rund um den Kirchturm des kleinen Ortes.
Wir begannen die Abfahrt, machten erste verhaltene Schwünge, immer wieder aufeinander achtend, mit fast ungläubigen Blicken nach jedem Hügel, so ungewohnt, nur wir zwei auf der Piste, auf der wir bisher immer zu mehreren gewesen waren. Der Weg führte uns in Serpentinen durch den Wald hinunter in den Ort, vorbei an der kleinen Kirche zum Einstieg etwas oberhalb, von dem uns ein Sessel auf die nächste Passhöhe brachte. Eng nebeneinander saßen wir und berührten uns zaghaft mit den Skiern, er mit dem rechten, ich mit dem linken,  hin und wieder ein Blick, als könnten wir es immer noch nicht begreifen. Oben angekommen, eine kurze Abstimmung und gleich wieder hinunter, mal er hinter mir, mal ich hinter ihm, Kurve um Kurve, Strecke für Strecke, Ort für Ort, Sessellift, Passhöhe, immer weiter, hoch und runter, durch die steinerne Stadt zu Füßen des felsigen Langen und des kleinen Bruders, vorbei an der Scharte der Waghalsigen. Wie schön das war, nur er und ich über vier Pässe und durch vier Täler, bis wir schließlich dort ankamen, wo wir einige Stunden zuvor gestartet waren.
Ich erzähle dir das, um dir klarzumachen, dass mit dir jetzt alles anders ist und damit du verstehst, was das für mich bedeutet und warum ich ihn nicht verlieren will, warum ich mich fragen muss: Du oder er? 
Am Abend dann in dem Haus oben am Berg, in dem wir tags zuvor mit so vielen am Tisch saßen, jetzt nur wir zwei. Spagetti Bolognese hatten wir in die Schüsseln gezaubert, dazu Parmiggiano. Nach dem Essen hörten wir Musik. Meine Lieblingssongs mochte er, ich seine ebenfalls. Wir lachten und tanzten, auseinander zusammen, auseinander zusammen, stundenlang. Dann holte er seine Gitarre hervor. Ein Stück gefiel mir besonders. Ich wollte es noch einmal hören. Er spielte es noch einmal. Immer wieder spielte er diese Melodie. Sie begleitete mich die ganze Nacht lang und am nächsten Morgen war sie immer noch da. Und am Tag darauf, in der nächsten Nacht, die ganze Zeit war sie bei uns. Er und ich und unsere Melodie.
Drei Monate haben wir nun schon diese ungestörte Zweisamkeit, jeden Samstag, jeden Sonntag, viele Abende und Nächte. Zusammen einkaufen, kochen, essen, Musik hören, tanzen, bummeln in Fußgängerzonen, durch Wälder und Parks, meine Hand in seiner Hand, reden über schwarze Löcher und ‚Rosen im Asphalt’.
Unser nächstes gemeinsames Projekt sollte eine Wanderung in unserem Winterparadies sein, jedoch ohne Schnee. Für diesen Sommer war es geplant und sogar schon in den Details vorbereitet. Mit Rucksack und Zelt wollten wir unterwegs sein, den schroffen Langen, seinen kleinen Bruder und die Scharte der Waghalsigen mal aus der Nähe betrachten, durch die steinerne Stadt gehen und dann weiter, Berge und Täler durchwandern, zu Fuß das Massiv umrunden. Unser Sommerprojekt nennen wir das, nannten wir das, hatten es uns so schön vorgestellt. Und nun knallst du in unser Leben, bist plötzlich da und bleibst auch da, hast dich schon eingenistet, als sei das ganz selbstverständlich. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass du kommst. Vierzig Jahre lang hat mich nichts so aus der Bahn geworfen. Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen, zu unruhig war ich, viel zu unruhig. Wie soll es weitergehen? Mit dir dabei ist nichts mehr wie vorher. Tag und Nacht bist du nun dabei. Nie mehr bin ich allein. Nie mehr sind wir zu zweit, er und ich. Wie wird er reagieren, wenn er es erfährt? Mein lieber Träumer. So jung und unverbraucht. Bisher hat ihm das Leben noch keine solche Verantwortung aufgebürdet. Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, wie sich das anfühlt, wenn er plötzlich so gefordert wird wie mit dir. Er soll sich nicht verändern, soll immer der liebe Träumer bleiben. Doch ich befürchte fast, dass das nicht geht. Aus der Traum. Was wird er sagen? Über die Möglichkeit, du könntest dazukommen, haben wir nie gesprochen. Vielleicht hätten wir es noch getan. Irgendwann wäre es vielleicht ein Thema gewesen. Und nun bist du schon da. Konntest nicht mehr warten. Ich habe Angst, dass sein helles Gesicht sich verfinstert und dass jetzt alles vorbei ist.
Vorhin hat er angerufen. Er war so lieb, kommt heute schon etwas früher, hat es extra möglich gemacht, freut sich auf mich. Am Telefon konnte ich es ihm nicht sagen. Es ging einfach nicht. In seine Fröhlichkeit wollte ich nicht hineinplatzen mit dieser Botschaft. Ich weiß ja selbst erst seit gestern, dass du da bist. Was ich empfand, als ich es erfuhr? Das sollst du auf jeden Fall wissen. Mein Herz hüpfte, als wollte es aus der Brust springen. Und wenn ich in mich hineinhorche, ist es heute immer noch so. Ja, mein Bauch sagt etwas anderes als mein Kopf. Ein tolles warmes Gefühl habe ich, spüre intensiv, dass du da bist. Angenehm süß die leichte Übelkeit. Ein paar Millimeter groß bist du erst, doch dein Herz schlägt schon. Ein gerade erst begonnenes Leben, ein ganz kleines Leben, ein winziges Leben. Dein Leben. Dein Herzschlag. Was meinst du? Ich soll noch mal überlegen, warum die Frage: Du oder er? Das ist ja eine ganz neue Sichtweise. Gar kein Dilemma? Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Recht hast du. Warum eigentlich diese dumme Frage? Zumal sie ja für mich ohnehin längst beantwortet wäre, sollte sie sich denn so stellen, was ja gar nicht der Fall ist. Du oder er? Was soll überhaupt das ‚oder’? Ich werde es gegen ein ‚und’ austauschen. Du und er, muss es heißen. Noch besser: Du und er und ich.
Je mehr ich nun darüber nachdenke, desto mehr gewöhne ich mich an den Gedanken. Du und er und ich. Wir sind jetzt drei. Ja, das werde ich ihm sagen. Und er muss wissen, dass jetzt alles ein bisschen anders wird, vor allem, dass ich höllisch aufpassen muss auf dich, damit dir nichts passiert. Das ist wichtiger als alles andere im Moment. Nichts werde ich tun, was dich in Gefahr bringen könnte. Deshalb werden wir das Sommerprojekt streichen müssen. Eine Wanderung in den Bergen wäre nichts für dich, viel zu gefährlich. Du musst erst noch ganz doll wachsen, bis du groß und stark genug bist für diese Welt. Im nächsten Sommer nehmen wir dich dann mit zum felsigen Langen. Der blinzelt seinem kleinen Bruder zu, ohne dass es jemand sieht, und die beiden Unentwegten amüsieren sich still. Dein Vater hat anstatt Rucksack dann dich in der Trage auf dem Rücken und zu dritt wandern wir ein kleines Stück entlang der Scharte der Waghalsigen und durch die steinerne Stadt.
Gleich wird er hereinkommen und sich auf seinen Platz im Sofa setzen. Da bleibt nur noch eine Frage: Wie sag ich es ihm? Am besten besorge ich uns erst einmal einen Pott Kaffee aus der Küche. Dann setze ich mich neben ihn und schaue ihn an. Sein helles Gesicht strahlt. ‚Was machen wir jetzt?’, fragen seine Augen. Meine Antwort kannst du dir schon vorstellen: ‚Wir haben ein winziges neues Projekt’, werde ich sagen.

Samstag, 2. Januar 2016

Angie und Al


Als sie die schwere Holztür öffnete und hineinging, sah sie wieder die traurigen Gesichter. Für einen Augenblick wandten sie sich ihr zu. Doch inzwischen hatte jeder hier kapiert, dass billige Anmache bei ihr nicht ankam und sie richteten ihre Blicke gleich wieder auf die attraktive Wirtin, die das Bier zapfte und ihnen die Drinks auf die Theke stellte.
Ein Hauch von Wehmut stieg in ihr hoch, als sie sich auf den Barhocker setzte. Alina dachte an ihren Mann. Der konnte jetzt gemütlich auf dem Sofa liegen und fernsehen, inzwischen mit einer neuen Frau an seiner Seite. Doch wollte sie tauschen? Nein. Die dörfliche Idylle vermisste sie nicht. Sie war stolz auf ihre kleine Wohnung in der Stadt. Dafür nahm sie in Kauf, dass ihr abends schon mal die Decke auf den Kopf fiel. Die Eckkneipe bot eindeutig die bessere Lösung als das Sofa.
„Wein?“, fragte die Wirtin mit einem kurzen Blick.
Alina nickte und schaute in die Runde. Da stand einer mit einem auffallend roten Hemd, den sie dort noch nie gesehen hatte. Auch er schaute sehnsüchtig, doch verglichen mit den müden Augen seiner Nachbarn lag in den seinen ein Strahlen. Er hatte weiche Gesichtszüge und lächelte zu ihr hinüber. Sie musste immer wieder hinschauen.
Langsam kam das Lächeln näher, bis der Mann sein Weinglas neben das ihre stellte. Im ersten Moment war sie etwas erschrocken, doch dann spürte sie eine Welle von Sympathie. Ihr gefiel das geschwungene Blumenmuster auf seinem Seidenhemd und sie entdeckte, dass er sogar Make-up aufgelegt hatte, seine langen Wimpern waren sorgfältig geschminkt. Ein seltsamer Typ. Doch niemand hier schien an seinem Outfit Anstoß zu nehmen.
„Was ist normal?“, fragte er.
Konnte er in ihren Gedanken lesen?
„In meinem Dorf wäre das nicht normal.“ Sie lächelte verlegen.
„In Ihrem Dorf?“
„Da könnten Sie nicht wie ein Paradiesvogel am Tresen stehen.“
„Stadtluft macht frei. Schon im Mittelalter wusste man das“, lachte der Mann und erhob sein Glas. „Lass uns auf die freie Luft trinken. Ich heiße Angelo“, fuhr er fort und schenkte ihr einen unwiderstehlichen Blick aus seinen blauen Augen.
„Alina.“
Angelo war noch näher gerückt. Sie wehrte sich nicht, als er seine Hand auf ihren Oberschenkel legte.
„Deine Dorfleute finden  es auch nicht normal, wenn eine junge Frau spätabends in der Kneipe mit einem Paradiesvogel Wein trinkt“, sagte er. 
„Außer beim Maskenball“, überlegte Alina. „Am kommenden Samstag in der Turnhalle.“
„Ich wette, du gehst hin.“
„Und niemand wird mich erkennen.“

Alina und Angelo redeten noch lange miteinander an diesem Abend. Sie erzählte von ihrer Arbeit in der Grundschule, er sprach über die Sportredaktion bei der Lokalzeitung. Sein Lieblingsthema aber waren Boutiquen für edle Kleidung und seidene Unterwäsche. Da kannte er sich bestens aus. Sie fand das prickelnd.

Am Samstagabend stellte sie das Auto auf einem spärlich beleuchteten Parkplatz ab. Sie wollte nicht erkannt werden. Mit Blick in den Spiegel rückte sie die rote Krawatte auf dem schwarzen Hemd zurecht. Die langen Haare hatte sie unter dem Hut verschwinden lassen. Sie zog ihn bis über die Augen. Dann stieg sie aus und strich die Anzughose glatt.
Ihr Herz hämmerte, als sie dem Eingang näher kam. Da saß Otto vom Turnverein und verkaufte ihr die Eintrittskarte. Er schaute sie prüfend an, aber erkannte sie nicht. So konnte sie ganz unbesorgt in das närrische Treiben eintauchen. Erstaunlich, wie entspannt sie als Mann alles betrachten konnte. Da waren aufgeregt schwatzende Cleopatras, Spinnenweiber und Cocktail Bunnies am Tisch der Landfrauen, bekannte Gesichter darunter. Am Nebentisch tummelten sich die Hexen und Mönche vom Gesangverein, auch in diesem Jahr wieder maskiert.
Sie könnte sogar eine der Fratzen zum Tanz auffordern. Doch nach Hexentanz war ihr nicht.
Langsam ging sie weiter. Ein mit Pailletten verziertes Dekolletee fiel ihr in die Augen. Es gehörte zu einer schwarzen Grazie, die lässig an der Theke lehnte. Silberfransen an fließendem Seidenstoff machten jede Bewegung der wohlgeformten Beine mit. Unter der dunklen Lockenpacht funkelten lange goldene Ohrhänger. Alina wurde unwillkürlich in ihre Richtung gezogen und blieb neben der rassigen Schönheit stehen. Im gleichen Moment hatte sie ein Glas Sekt in der Hand.
„Al Capone in Nadelstreifen.“ Das war die vertraute Bassstimme. Ebenso unverkennbar die geschwungenen Wimpern im kunstvoll geschminkten Gesicht.
„Nenn mich Angie.“
„Ich bin Al“, prustete Alina.
„Alles normal“, sagte Angie, beugte sich ein wenig hinunter und drückte Al einen knallroten Schmatz auf den Mund. Ihre blauen Augen strahlten und lächelten verschmitzt.
Al trank das Glas leer.
„Komm mit, Angie!“ Er zog seine Black Lady auf die Tanzfläche. Sie standen voreinander. Tanzhaltung war angesagt. Lange probierten sie, bis er Angies Hand in seiner Linken hielt und seine Rechte in der richtigen Position auf ihrem Rücken lag.
„Wer tanzt den Männerschritt?“, fragte er unsicher.
„Der Mann. Wer sonst?“ Angie lachte schallend.
Klar, doch so einfach war das nicht. Links rechts tadam oder rechts links tadam, überlegte Al.
„Beim Foxtrott beginnt der Herr mit links“, half ihm Angie.
Schon nach den ersten Schritten schob Al gekonnt seine Dame über die Fläche. Er schaute zu ihr hoch und stellte befriedigt fest, dass sie Oberkörper und Kopf weit nach hinten beugte. Die Rechtsdrehung, die Linksdrehung, auseinander und wieder zusammen. Sie tanzten, als hätten sie das einstudiert. Selbst der Tango gelang. Al zählte leise mit: eins…zwei…drei vier fünf…sechs sieben acht und eins… Er musste nur leicht die Finger bewegen, schon wusste seine Tanzpartnerin, was sie zu tun hatte.
Beim Walzer wirbelten sie in großen Kreisen an den Tischen vorbei. ‚Alles normal, ihr Spießer’, dachte Al und registrierte gelassen, wie viele Augenpaare auf sie gerichtet waren.
Als Angies Make-up zu zerfließen begann und sein Bartschatten sichtbar wurde, verloren sie nicht viele Worte. Hand in Hand gingen sie zum Parkplatz.

Niemals will ich Spießer werden, dachte Alina, als sie in Begleitung von Angelo mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock fuhr. So ein Appartement in der Stadt hatte doch eine Menge Vorteile.