Sonntag, 29. März 2015

Mensch, Rüdiger

Woher kam der Knall? Uli Meißner sprang von seinem Schreibtisch auf und lief zur Tür, einige Schüler rannten hinaus auf den Flur. Von oben kamen sie die Treppe hinuntergestürmt. „Da rennt einer rum und schießt wild um sich“, hörte er in dem Gekreische. „Los! Los! Los! Schnell raus hier! Treppe runter! Raus aus dem Gebäude! Alle nach draußen!“ Sie drängelten und schubsten. Kreidebleiche Gesichter, Angst in den Augen. Einige schrieen, andere hielten sich am Arm eines Mitschülers fest und ließen sich mitziehen. Dann war es still im Gang.
Er schaute über die Tische im Kunstraum, wo er gerade noch Unterricht gemacht hatte. Angefangene Aquarelle, Taschen neben den Stühlen und Jacken auf den Lehnen. Den Raum abschließen. Auch den benachbarten Materialraum verschloss er. Oder sollte er doch lieber die Türen offen lassen wie beim Feueralarm? Einen Augenblick lang war er völlig ratlos. Ob wirklich alle draußen waren? Sollte er noch mal oben nachsehen? Was würde ihn erwarten nach all den Schüssen und den entsetzlichen Schreien? War es überhaupt richtig gewesen, die Schüler hinauszuschicken? Totenstille jetzt.
Die Tür des Physikraums stand offen. Er schaute hinein und wich entsetzt zurück. Die Kollegin saß auf ihrem Stuhl, den Kopf auf dem Tisch. Große Blutlache. Daneben auf dem Boden lag eine Schülerin leblos in ihrem Blut. Hilfe musste her, ganz schnell. Er rannte zum Fenster an der Treppe und riss es auf. Polizei- und Ambulanzwagen unten auf der Straße.
„Hilfe! Notarzt! Sanitäter! Kommen Sie! Ganz schnell!“, schrie er hinaus.
„Was tun Sie noch da oben?“, brüllte ein Polizist. „Verlassen Sie das Gebäude! Sofort!“ 
Was wussten die denn da draußen? Sie verstanden gar nichts. Er konnte jetzt nicht einfach weglaufen. Wahrscheinlich waren die beiden tot. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht waren sie nur bewusstlos. Was sollte er nur tun? Erste Hilfe hatte er nicht geübt. Am Ende machte er alles nur noch schlimmer.
Das war doch was. Schlurfende Schritte. Er drehte sich herum und erstarrte. Ein schwarzes Phantom fuchtelte mit einer Pistole herum, stieß sie ihm zwischen die Rippen. Er ging rückwärts, das Monster hinterher. Durch die Sehschlitze der Maskierung hindurch fixierte er die Augen des Vermummten und konnte erkennen, wie sie hektisch hin- und herzuckten. Nicht schwach werden jetzt. Aufrecht stehen, so gut es ging mit den schlotternden Knien. Aus Gewohnheit versuchte er, den Schlüsselbund in die Hosentasche zu stecken, den er immer noch in der Hand hielt. Dabei merkte er, dass seine Finger fürchterlich zitterten, sodass er immer daneben griff. Endlich geschafft. Die Nerven. Ihm wurde übel. Ja nicht umfallen. Durchhalten. Er zwang sich, weiter den Maskierten zu fixieren. Da spürte er, wie der Druck der Pistole ein wenig nachließ. Ihm war sogar, als ob auch dessen Finger heftig zitterten. Plötzlich zog sich der Schwarze die Maske vom Gesicht. Der Lehrer erkannte seinen ehemaligen Schüler.
„Mensch, Rüdiger, du? Hast du das alles gemacht? Hast du geschossen?“
Schwer atmend drückte der Demaskierte ihm die Pistole fester auf das Brustbein. Eigentlich müsste Uli Meißner die Nerven verlieren, hing doch sein Leben an diesem kleinen Abzugshebel, den der Finger einer zitternden Hand jeden Moment auslösen konnte.
‚Ich stecke in der Falle’, dachte er sich, ‚jede Bewegung kann tödlich sein.’
„Erschieß mich, aber sieh mir in die Augen dabei.“ Ganz ruhig sagte er das.
Nach kurzem Zögern ließ der Angreifer den Arm mit der Waffe sinken.
„Erst einmal reicht’s, Herr Meißner.“
„Besser ist das. Und nun? Was hast du nun vor?“
„Wenn ich das nur selbst wüsste.“
Immer die gleiche Frage, immer die gleiche Antwort. Und jetzt dieses unfassbare Grauen.
Uli Meißner gelang es, sein Entsetzen zu verbergen. „Da hast du dich ganz gewaltig in die Scheiße geritten und bist so was von ratlos“, sagte er. „Wie willst du nur rauskommen aus diesem Desaster?“
Wie ferngesteuert nestelte er in der Hosentasche, fand den gesuchten Schlüssel zwischen all den anderen und umklammerte ihn. Er ging die paar Schritte zum Materialraum, öffnete die Tür und ließ sie offen stehen. Der Amokschütze war ihm gefolgt und schaute ein wenig verlegen hinein.
„Wie lange ist das jetzt her, Rüdiger? Weißt du noch?“
„Ja, ich erinnere mich. Sie fanden meine Bilder nicht schlecht. Das Plakat in Schwarzweiß. Nicht einmal der Totenkopf hat Sie geschockt.“
„Obwohl ich mich immer gefragt habe, warum du so düstere Bilder malen musstest. Schwarz war deine Lieblingsfarbe. Besonders Friedhöfe hatten es dir angetan.“
„Eins meiner Gräberfelder hatten Sie sogar im Materialraum ausgestellt. Hängt das da noch?“
„Schau nach. Hier kennst du dich doch aus.“
Rüdiger ging hinein und ließ sich erschöpft auf den Stuhl fallen, Uli Meißners Stuhl vor dem großen Tisch, an dem er immer saß, Bilder der Schüler zum Benoten auslegte, Skizzen und Berichte erstellte, seit vielen Jahren seine Rückzugsoase im nervenaufreibenden Schulbetrieb.
„Ich bin sofort zurück“, sagte der Lehrer und schloss von außen ab.
Immer noch den Schlüsselbund in der Hand, lief er den Gang entlang zur Treppe. Da kamen sie schon heraufgestürmt, zwei, drei Männer mit vorgehaltenen Waffen.
„Ist er hier?“, fragte einer. „Haben Sie den Täter gesehen?“
„Ja, aber holen Sie schnellstens Hilfe, dorthin.“ Er zeigte auf die Tür des Physikraums.
„Ist schon unterwegs. Wo ist er? Wir müssen das brutale Schwein finden, bevor es noch mehr Tote und Verletzte gibt.“
„Kommen Sie mit“, forderte der Lehrer die Männer auf. Sie folgten ihm. „In dem Raum ist er. Ein ehemaliger Schüler. Nehmen Sie diesen Schlüssel. Äußerste Vorsicht, der junge Mann ist schwer bewaffnet.“
In dem Moment fiel drinnen ein Schuss.
Uli Meißner ließ sich von einem der Männer wegführen.

© Renate Hupfeld 2010




Freitag, 27. März 2015

Warum sehen sie so normal aus?


Auf dem Parkplatz an der Einfahrt zum Gelände des alten Rittergutes stellt Hannah ihr Auto ab. „Schule in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie“. Hier arbeitet sie seit vielen Jahren. Einige Jungen und Mädchen sind schon Zigarette rauchend in Richtung Schulgebäude unterwegs. Warum sehen sie eigentlich so normal aus, denkt Hannah. Ihre Lerngruppe besteht aus fünf  intelligenten jungen Menschen zwischen siebzehn und zwanzig Jahre alt. Punkt acht Uhr sitzen sie an ihren Tischen, die Blicke auf Hannahs Pult gerichtet. „Diderich Heßling – ein durchtriebenes Kind“ steht an der Wandtafel. Textausschnitte aus einem Roman von Heinrich Mann werden untersucht. Starker Vater, schwache Mutter, das Kind hat Lustgefühle, wenn der Vater es verprügelt, finden die Schüler heraus.
Kurz vor Ende der Deutschstunde wird die Tür des Klassenraums geöffnet. Stefan aus einer anderen Welt. Hannah wundert sich über sein Outfit, billige Jeans und Anorak. Ganz anders als während der Skifreizeit im Allgäu. Stefan mit großem Koffer und einem Schrank voller feinster Klamotten. Sie selbst hatte sich ein Kashmere Sakko für einen Restaurant Besuch bei ihm geliehen. Angeblich Geschenk seiner Mutter.
Hannah beendet die Unterrichtsstunde, formuliert eine Hausaufgabe und schickt die Schüler in die Pause. Stefan steht am Fenster Klassenraums und schaut in Richtung Schulgarten. So wird sie diesen hübschen Jungen in Erinnerung behalten. Später wird sie Bilder von der Skifreizeit betrachten und fest stellen, dass er auf fast allen ihren Fotos zu sehen ist. Stefan bei der Wanderung im Schneetreiben, Stefan im Lift und mit schwarz-weiß geschminktem Gesicht am Abschlussabend.

Dir geht’s schlecht, sagt Hannah.
Ich will wieder in die Schule.
Du kennst unsere Regeln. Wenn du clean bist, kannst du wieder am Unterricht teilnehmen.

„Diderich Heßlings Entwicklung zum Untertan“ schreibt Hannah am nächsten Morgen an die Tafel. Sie gibt den Schülern ein Arbeitsblatt mit Aufgaben und Hinweisen. Während die Gruppe arbeitet, klingelt das Telefon auf Hannahs Tisch.
Stefan ist tot. Er wurde in einem Stundenhotel in der Nähe des Dortmunder Hauptbahnhofs gefunden. Überdosis.

Renate Hupfeld am 24. August 2002  während des Arnsberger Kunstsommers im Workshop „Kurze Texte“ mit Michael Klaus 

Montag, 9. März 2015

Holly und die Second



Pastor Sundermeier meint es ja gut, doch er kann mir nicht helfen. Was versteht der schon? Überlege dir gut, was du tust, Holly, hat er gesagt.
Da ist nichts mehr zu überlegen, Herr Pastor. Ich habe mir das gut überlegt und alles bestens vorbereitet. Es gibt keinen anderen Weg. Ich habe getan, was ich konnte. Immer treu zu ihm gehalten, ihm aus der Patsche geholfen, als er den Job verloren hatte, mich um den ganzen Scheiß in Haus und Garten gekümmert, geputzt, gewaschen, eingekauft, gekocht, jeden Morgen seine Sachen weggeräumt, Schuhe im Wohnzimmer eingesammelt, in den Schuhschrank gepackt, seine Hemden gebügelt, Socken sortiert wie blöde. Wie er es wollte. So, wie es sich gehört. Selbst diese neuen Boxershorts hab ich fein zusammengelegt. Mehr geht nicht.
Was Manfred dazu sagt?
Nichts. Gar nichts. Wie denn auch? Midlife ist angesagt.
Verstehst du nicht?
Dachte ich mir. Mitternacht ist längst vorbei und der ist immer noch nicht in seinem Bett. Das ist Midlife.
Wo er ist?
Fitnessstudio oder Tennis, was weiß ich denn? Mich geht das doch nichts an, sagt er, und schon gar nicht seine Geschäftsreisen. München, Hamburg, Berlin und Frankfurt. Ein ganz neues Outfit und Duftwasser hat er sich zugelegt, Hemden nicht mehr von P & C, sondern von diesem Laden in der MyZeil. Der stellt sich doch tatsächlich mit den Kids vor den Eingang mit den Sixpack Beachboys, um sich das Zeug zu beschaffen. Was sagst du dazu, Pastorchen? Fast fünfzig Jahre alt und wartet geduldig in der Schlange, wo allerhöchstens mal Papas für ihre Kleinen Mitbringsel besorgen, zum Beispiel T-Shirts oder Hemden mit diesem Label. Frei wie ein Vogel. So weit ist es mit ihm gekommen.
MyZeil kennst du nicht?
Woher auch? Macht ja nichts.
Neuerdings zieht es ihn auch in Diskotheken. Wahrscheinlich nicht alleine. Interessiert mich gar nicht, mit wem er sein Spielchen treibt. Mit mir jedenfalls nicht mehr.
Meine Phantasie geht mit mir durch?
Stimmt, geht sie, doch anders, als du es dir vorstellen kannst.
Durststrecke im Leben? Gute und schlechte Tage?
Hör auf mit diesem Durchhaltequatsch, kleiner Pastor. Du machst es dir einfach, stellst dich auf die Kanzel und schaust in fromme Gesichter. Nichts gegen deine Predigten, doch die sind in den Wind gesprochen. Du hörst auch nicht, wie sie übereinander herziehen, hinterher, wenn sie das Gotteshaus verlassen, wo du Nächstenliebe predigst. Wer weiß, was sie über mich reden. Und weißt du, was mir klar geworden ist? Am Sonntag in der Kirchenbank knien und in das ewige Licht glotzen bringt mir nichts.
Glotzen ist zu heftig?
Na gut, nehme ich zurück. Verklärt gucken trifft es auch. Ich jedenfalls nicht mehr. Und was ich dir schon immer sagen wollte: Dein Landfrauenverein ist nicht meine Welt. Radeln für einen guten Zweck hört sich zwar als Aufhänger im Blättchen gut an, doch das geht auch ohne mich. Und Kuchen backen für den Missionsbasar können sowieso andere besser. Ich bin keine Landfrau.
Vermitteln willst du, mit Manfred reden, ihn fragen, warum er in der Gegend herumturnt, anstatt in seinem Hause bei Holly?
Vergiss es. Ich habe gearbeitet, wird er dir antworten. Lügen, alles Lügen. Frag ihn lieber, warum er sich diesen verdammten Stress macht.
Du findest ihn ganz nett und glaubst ihm, dass er viel Arbeit hat?
Eigenartig. Alle, die ihn nicht kennen, finden ihn okay und charmant. Naiv bist du, Sundermeier, kannst dir nicht vorstellen, dass er das Graue vom Himmel runterlügt. Was verstehst du von Midlife?
Jetzt schweigst du.
Es kommt noch schlimmer. Mit mir hat das nichts zu tun, hat der gesagt. Knaller, findest du nicht? Um sein Leben geht es, um nichts anderes. Das fließt ihm unter den Händen weg. Und er hat nur eins. Ja, ja. Leben will er endlich. Mit mir hat das gar nichts zu tun. Was sagst du dazu?
Ich soll nicht zynisch werden? Warum fragst du nicht, warum ich diesen Schwachsinn jahrelang ertragen habe? Ich bin nicht zynisch, nur entschlossen. Weißt du, was das heißt, Pastorchen? Ich hab auch nur ein Leben. Stell dir vor: Mit dem mach ich, was ich will.
Trotzdem noch ein Gespräch versuchen?
Mach dich nicht lächerlich. Was glaubst du denn, wie viele Stunden ich am Fenster auf diesen Nichtsnutz gewartet habe? Und wie viele Seiten meine dicke Chinakladde dabei ertragen musste? Aus und vorbei. Ich weiß, was ich zu tun habe.
Nicht alles wegschmeißen? Ich könnte es bereuen?
Was denn? Wo nichts ist, kann ich nichts wegschmeißen und da gibt’s auch nichts zu bereuen. Und komm mir nicht mit Gottvertrauen. Den geht das schon mal gar nichts an. Der soll sich raushalten aus meinem Leben. Okay?
Der wird die Sache schon in die richtige Bahn lenken, meinst du?
Ha! Ha! Du bist ja hartnäckig. Das sehe ich wie die Courage. ‚Der Mensch denkt: Gott lenkt.’ Doppelpunkt anstatt Komma zwischen ‚denkt’ und ‚Gott’. Selbst die Dinge in die Hand nehmen, denn von ‚Gott lenkt’ kann keine Rede sein, sagt sie, die weise Courage.
Nie gehört? Brecht kennst du nicht? Auch gut.
Bis der Tod …?
Das musste ja jetzt noch kommen, wusste ich es doch. Dein letzter Trumpf. Du ziehst aber auch alle Register. Mir ist schon klar, was du damit meinst. Ich weiß, was ich zu tun habe, bin frei wie ein Vogel.
Du wirst für mich beten?
Wohlmöglich sogar in der Kirche. Ich höre sie schon tuscheln.
Die kleine Holly aus dem Neubaugebiet wirst du vermissen?
Ach, du bist ja süß. Ich dich auch. Good bye, Meierchen. Mein Taxi steht vor der Tür. Bei Sonnenaufgang werde ich im Flieger sitzen, sieben Stunden später in der U-Bahn nach Upper Midtown Manhattan und zum Frühstück bei Starbucks auf der Second. 

Mehr davon? Taschenbuch und eBook ► Wenn wir von Liebe reden