Montag, 23. Februar 2015

Missgeschick im Mittagstal



Heute wollen wir vom Grödnerjoch aus entlang des Sellamassivs oberhalb der Baumgrenze zum Wasserfall und durch das Mittagstal zurück wandern. Dazu nehmen wir nicht die Gondel, sondern laufen hoch zur Passhöhe. Der Weg führt zunächst gemächlich, später etwas steiler durch Wiese und Wald und gibt beim Blick zurück das ganze Panorama mit Passstraße und dem idyllisch eingebetteten Colfosco und dessen Hausberg Sassongher. Bevor wir uns auf der Terrasse des Restaurants „Frara“ auf der Passhöhe einen Cappuccino gönnen, haben wir den unvergleichlichen Langkofel fotografiert und uns bereits umgesehen, wo wir in unsere Route einsteigen können.
Der Wanderweg 666 beginnt unmittelbar hinter dem Restaurant „Frara“ oberhalb der Passstraße. Als harmloser schmaler Pfad schlängelt er sich hinauf und führt uns schnell auf eine Höhe, von der aus wir das ganze Panorama mit Cirjoch, der Dantercepies Bergstation, Jimmy Hütte, Almen mit Heustadeln, Passstraße und mitten darin unsere Cappuccinoterrasse vor Augen haben. Auf vielleicht halber Höhe des Sellamassivs gehen wir dann eine ganze Strecke weit ziemlich eben in  Richtung Colfosco und Corvara, umgeben von Bergblumen in Rot, Blau, Gelb und Weiß, links der Abgrund, mal steil mal sanfter, rechts der schroffe Fels des mächtigen Sella und inzwischen unter uns das liebliche Tal mit Colfosco und Sassongher.
Der Pfad wird schroffer und dann kommt die Stelle, an der wir den Wanderweg 666 verlassen und auf der 29 weiter wandern in Richtung Wasserfall. Der Blick zurück zeigt uns Passstraße, Almen und Cirspitzen unter felsigem Abgrund und der Blick nach vorne lässt Sassongher, Colfosco mit unserem Mesoles und Corvara näher rücken. Dann hören wir ihn schon, den Wasserfall, und sehen ihn auch bald. Oben rechts über ihm klebt eine ganze Kette von winzig kleinen Kletterern, die sich in Serpentinen den Felsen hinaufkämpfen zum See und zur Pisciaduhütte. Wir überqueren den vom Wasserfall gespeisten Bach, füllen unsere Trinkflaschen, suchen uns einen schönen Sitzfelsen und machen erst einmal Picknick.
Danach wird der Weg noch einmal richtig schön, rechts und links Bäume und ein Flickenteppich in Grün, Grau und Rot bis zum Schild, auf dem wir lesen, dass wir nach Colfosco noch eine Stunde und zehn Minuten zu wandern haben. So lange? Das kommt uns lang vor, zumal unser „Mesoles“ links unten zum Greifen nah scheint und vor uns bereits die gewaltige Felswand des Mittagstales aufragt. Wir steigen ein in den unteren Teil dieses berühmten Tales. Und der Abstieg hat es in sich. Wir befinden uns plötzlich in einem Labyrinth aus Felsen, in dem wir an manchen Stellen vergeblich nach Orientierung suchen. Entweder ist die Lücke zwischen den Brocken zu eng oder gar keine zu finden und in jedem Falle zu hoch und zu steil. Mit Suchen und Probieren kommen wir langsam tiefer. Es geht einigermaßen, bis mir ein Missgeschick passiert, das mir einen Moment lang den Schock in die Adern treibt. Die Sohle eines meiner Schuhe hat sich gelöst, hängt nur noch vorne am Zeh und klafft gefährlich auseinander. Ich schau zu Georg hinüber. Ihm steht der Schreck im Gesicht geschrieben. Ohne Sohle läuft in diesem schroffen Gelände gar nichts. Holt mich hier raus! Mit zitternden Händen binde ich mit dem Schnürband das Teil am Schuh fest und hoffe, dass es hält  und nicht an den scharfen Steinen durchscheuert. Weiter absteigen, es gibt ja keinen anderen Weg. Es scheint gut zu gehen. Ganz langsam kommen wir hinunter, bis zum nächsten Missgeschick. Der zweite Schuh macht dieselben Sohlensperenzchen.  Ich könnte schreien, doch Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Auch dieser Bösewicht wird in gleicher Weise mit dem Schnürband behandelt, das heißt, meine Schritte werden noch vorsichtiger. Konzentration pur ist angesagt. Und durchhalten, denn wir haben unser Ziel noch lange nicht erreicht, auch wenn wir es schon prima sehen können. Es geht noch ein gutes Stückchen steil abwärts. Wir kämpfen uns langsam hinunter und erreichen nach einer gefühlten Ewigkeit den sicheren Spazierweg, der uns nach einer erstmaltiefdurchatmen Bankpause zum unteren Teil des Wasserfalls führt, dem touristischen Bereich. Der ist schön präpariert, sodass ich es sogar wage, auf notdürftig festgebundenen Sohlen die paar Höhenmeter hochzusteigen. Schließlich gelangen wir quer über die Wiese und durch ein Wäldchen zur Herberge, auf deren Terrasse wir unseren Herrn Lanzinger mit der Geschichte erheitern und uns ein kühles Skiwasser genehmigen. Ja, das Mittagstal ist nicht einfach und sie müssten da mit den Wanderwegen viel mehr machen, meint er.

Text und Foto: (C) Renate Hupfeld 08/2013 


Mehr davon in: Sechs Wanderungen in den Dolomiten


Freitag, 20. Februar 2015

Rot oder Schwarz?




Der kleine Mann steht da, als schaute er von seinem Stern in eine andere Welt, wartet und ich bin mir gar nicht sicher, ob ich überhaupt was von ihm will. So drücke mich ein bisschen hinter meine Freundin und schau mal, was da kommt. Als Steffi ihn anredet, wird er ganz schnell aktiv, nimmt ein paar Skier aus dem Gestell, packt sie vor sie hin, nickt und redet kurz mit ihr. Dann geht er mit den Brettern zu einem Werktisch schraubt einen Ski fest, setzt einen Skischuh, den Steffi gerade ausgezogen hat, in die Bindung, schraubt ein bisschen, macht dasselbe mit dem anderen Ski und drückt ihr Skier und zwei Stöcke in die Hand. Flugs kommt er zu mir, fragt, wie ich Ski fahre, ich sage, gut, Gewicht 49 Kilogramm, Alter sweetsixty, aber danach fragt er nicht, packt sich ein paar Bretter, stellt sie vor mich hin, leicht, meint er und will einen Skischuh. Schnell ziehe ich den rechten aus, er nimmt ihn mit zum Werktisch, macht blitzschnell seine Schraubarbeit und flugs habe ich Skier und Stöcker in den Händen. Dann geht der Kleine an die Kasse hinter der Theke, redet kurz mit meiner Freundin, schreibt was auf und schon stehen wir draußen im Schnee.
"Was hast du dem kleinen Mann bezahlt?", frage ich, als wir mit Brettern unter dem Arm und Stöcken in der Hand die Straße lang zur Gondelstation wandern.
"Gar nichts, er wollte nur wissen, wo wir wohnen."
"Aha! Immerhin, also nicht vom anderen Stern, sondern souveräner Verleiher von Material an Skitouristen.”
“Wie bist du denn drauf?”
“Ach, vergiss es, ich bin ein bisschen durch den Wind heute.”
“Keine Panik. Wir lassen langsam gehen, ist ja der erste Tag, da müssen wir mal schauen, wie es läuft.”
Früher hätte ich das gesagt, um sie zu ermuntern, weil sie nie in die Gänge kam. Und jetzt? Ist das überhaupt noch mein Sport? Da stehen wir schon in der Schlange vor dem Ticketbüro, den Superdolomiti kaufen, Steffi den normalen, ich inzwischen den mit Seniorenrabatt, und dann geht’s hoch auf den Piz La Ila. Wenn ich mit diesen Dingern nicht klar komme, war’s das für mich mit Ski fahren. Meine uralten gelbschwarzen Atomic, seinerzeit das Non plus Ultra, verlässlich in jeder Piste, hab ich gar nicht erst mitgenommen, nachdem sie mich im vergangenen Jahr im Stich gelassen haben, zu lang, zu schwer, zu schwerfällig, vielleicht auch ich, doch egal.. Nix mehr für meine alten Beine. Wie ein Depp bin ich über die Pisten gehampelt. Und der Supergau war, als ich bei gut präparierter Piste und strahlendem Sonnenschein in der Saslong auf den Hintern gerutscht war, nicht mal ein Sturz, nur auf den Hintern gerutscht und nicht mehr hoch kam. Immer wieder sackte ich in den Schnee, es war wie verhext. Ein Mann half mir schließlich aus der Patsche, packte meinem Stock, zog mich hoch fragte mit besorgter Miene, ob alles okay wäre, ich sagte, das sei es und quälte mich Kurve für Kurve die schwarze Piste hinunter, die ich sonst immer forsch hinuntergesaust war.
Schweigend latschen wir mit Superdolomiti, gut in den Jackentaschen verstaut, zur nächsten Schlange, die an der Gondel. Es geht jedoch zügig weiter und irgendwann sitzen wir drin und ruckeln los. Steffi fragt erst gar nicht, was ich nun für ein Gefühl habe, hat sich ja auch mein Genöle lange genug angehört, mir dringend geraten, leichtere Bretter zu leihen, und will jetzt nur noch Ski fahren. Sie kommt schon seit mehreren Jahren mit Leihmaterial super zurecht. Still sitzt sie nun mir gegenüber in der Gondel und wir schauen hinunter auf die schwarze Siebzehn, als Weltcuppiste “Gran Risa” bekannt. Idyllisch am Hang etwas oberhalb vom Dorf liegt auch das schnuckelige Häuschen, in dem wir eine kleine Wohnung gemietet haben, direkt von der Schwarzen aus zu erreichen, für mich wohl utopisch heute.
Wir stehen im grellen Sonnenlicht, als wir oben das Liftgebäude verlassen. Bretter an einer flachen Stelle in den Schnee legen, Helm und Sonnenbrille richten, Handschuhe anziehen, Hände in die Stockschlaufen und Schuhe in die Bindung. Da geht’s schon los. Mit dem rechten Schuh geht das ganz gut, doch der Linke will einfach nicht einrasten. Ich versuche, versuche und beginne zu schwitzen, komme mir total blöde vor. Ein junger Mann will helfen. Wie peinlich! Was soll der von mir denken? Alte Dame sieht nicht ein, dass dieser Sport nichts mehr für sie ist, zum Beispiel. Ein beherzter Hackentritt bringt endlich das erlösende Klickgeräusch. Ich stehe auf den Skiern, Brille und Hände ordentlich gerichtet, könnte eigentlich loslegen, hab aber überhaupt kein Gefühl für Ski und Piste. Was ist nur aus mir geworden? Sonst immer die erste am Hang, keiner zu lang und keine Abfahrt zu steil. Und jetzt dieses Elend..
Steffi ist schon lange fix und fertig, wartet schon eine ganze Weile, schaut sich ab und zu nach mir um und bleibt geduldig stehen. Früher war sie es, die immer so einen Zirkus veranstaltet hat, bevor sie in die Gänge kam und jetzt gibt sie den Ton an. Unglaublich. Langsam setzt sie sich in Bewegung, mich wie einen lahmen Gaul hinter sich herziehend. Im flachen Gelände ein bisschen Schuss, ein bisschen steigen, ein bisschen Schrägfahrt bis zum nächsten Lift, das ist ein Vierersessel. Es ist aber so leer, dass wir einen für uns haben.
“Nun?”, fragt Steffi.
“Geht doch", antwortet sie selbst.
Sie soll mich ja nicht weiter löchern mit Fragen wie ich klar komme oder Ähnlichem. Es reicht. Und es ist doch beruhigend, dass unsere Bretter jetzt fein nebeneinander auf den Stegen liegen und gut aussehen, Steffis weiß mit rot meine schwarz mit neongelbem Streifen in der Mitte, vorne und hinten ziemlich breit, das heißt stark tailliert, Bindung in leuchtendem Hellgrün, irgendwie gutmütig sehen sie aus, ja, gutmütig, das sind sie eigentlich auch, wie der kleine Mann vom anderen Stern, der sie für mich herausgesucht hat. Ich hab zwar die Kante noch nicht gefunden, aber das geht nur auf schwierigeren Pisten. Wir fahren ja zurzeit nur die einfachen Touren im Skigebiet und ruhen uns in den Sesseln immer wieder aus.
Schließlich wagen wir uns über Cherz und Campolongo auf den Boé und nehmen die rote Eins nach Corvara. Ich nehme Fahrt auf, heize über Buckel und durch Verwehungen, nehme die Kurven so eng wie möglich, wie ich es früher immer gemacht habe, ja nicht die Hänge ausfahren, sondern immer entlang der Falllinie. Wie befreit sitze ich nachher im Sessel, der uns zur Col Alto Gondel bringt. Weiter geht es noch ein paar Sessel, bis wir dann wieder an der Liftstation des Piz La Ila stehen. Rot oder schwarz? Also rote Siebzehn, die unten im Ort ankommt  oder die schwarze, die Gran Risa. Rot bedeutet, mit Skiern auf dem Buckel den Hang hoch zum schnuckeligen Häuschen laufen, schwarz mit elegantem Einkehrschwung direkt bis vor das kleine Holzhüttchen am Haus, in das wir die Skier stellen können. Vor einigen Stunden hätte ich mir nur die rote Variante vorstellen können.
“Na, was meinst du, kleine Helene?", meint Steffi und guckt mich an wie ein geduldiges Schäfchen, das sie heute ja auch ist. “Vor einiger Zeit wäre das ja gar keine Frage gewesen. Schwarz hätte dich magisch angezogen."
“Und das ist nicht vorbei. Es gibt nix zu entscheiden. Der kleine Mann im Skiladen hat zwar nicht viel geredet, aber er hat mir zwei sympathische Geister geschenkt. Die werden mich die Gran Risa herunterbringen.”

“Dann fahr du vor”, meint Steffi. “Ich kenne dich doch. Wenn du erst einmal in Fahrt bist.”

(C) Renate Hupfeld 02/2015

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