Mittwoch, 16. Dezember 2015

Theodors letztes Weihnachtsfest



Kurz vor Weihnachten fühlte er sich immerhin so kräftig, dass er seiner Schwester nach Berlin einen langen Brief schreiben konnte. Er bedankte sich für die Köstlichkeiten und die warme Decke, die sie ihm in einem großen Paket geschickt hatte und beschrieb, wie er im Sofa saß und es sich mit schönen warmen Füßen unter der Decke und Elisabeths Leckereien gemütlich machte. Er berichtete von der lieben Frau Seebach, der Krankenwärterin, die abends beim Zubettgehen auch immer darauf achtete, dass er schöne warme Füße habe. Mit Wehmut dachte er an das bevorstehende Weihnachtsfest und schrieb von einer schlank gewachsenen dunklen Tanne vor seinem Fenster gerade so hoch, daß sie mit ihrer schönen Krone wohl Platz hätte zum Fest in einem hohen weiten Saale, wo ganze Scharen von Kindern in ihrem Lichterkranz tanzen könnten.
Obwohl Verwandte und Freunde ihn zu Weihnachten wieder mit Geschenken und Aufmerksamkeiten erfreuten, vermisste er seine Lieben weit mehr als im Vorjahr im Gefängnis. Er fühlte sich sehr einsam, war aber getröstet durch einen stillen jungen Mann, mit dem Frau Seebach ihn zusammengebracht hatte und der am zweiten Feiertag bei Tee und Kuchen ein paar Stunden mit ihm verbrachte, wobei Theodor ihm eingehend von vergangenen Zeiten erzählen musste, als er noch mit Arnold Ruge, Moritz Hartmann und Eduard Meißner in Leipzig gemeinsame Träume hatte.
Nach Weihnachten besuchte ihn Malwida von Meysenbug. In ihren Memoiren berichtete sie darüber: „Ich fand ihn auf dem Sofa liegend, er schien tief gerührt, mich zu sehen. Ich war bis in das Innerste erschüttert von seinem Anblick und dachte, dass das nicht die einzigen Helden sind, die auf dem Schlachtfeld für die Freiheit sterben. Er starb ja auch, ein Kämpfer, an den Folgen des Kampfes. Sein Zimmer war gross und luftig, aber es war doch das Zimmer eines Hospitals, und er war allein da, fern von allen, die er liebte. Er war noch nicht dreissig Jahr, aber er schien mindestens vierzig; ein langer schwarzer Bart hob seine Blässe und Magerkeit noch mehr hervor, und wenn ein Lächeln auf seine Lippen kam, so war es traurig zum Weinen.“
Die Freundin hatte sich in einem Gasthof eingemietet und blieb eine Woche in Gotha. Täglich besuchte sie Theodor und blieb so lange, bis er sich ausruhen musste. Auch den Silvesterabend verbrachten sie mit Erinnerungen an ihre Zeit in Detmold, ihre gemeinsamen Ideale von Liebe und Freiheit und an seine Mutter. Bevor Malwida Gotha verließ, besorgte sie ihm einen bequemen Lehnstuhl, weil ihr aufgefallen war, wie schwer das Sofasitzen ihm fiel. Malwida erinnert sich:  „Er war sehr gerührt, und als er mir die Hand zum Abschied reichte, sagte er mit bewegter Stimme: 'Man hat behaupten wollen, dass die demokratischen Frauen kein Herz hätten; es ist an mir, dem zu widersprechen.’“


Kapitel aus:

Dienstag, 27. Oktober 2015

Novemberblues


Auf dem Weg über den Parkplatz flatterten mir die Blätter um die Beine, schön bunt, doch gar nicht lustig, verbesserten meine Laune keinesfalls. Die war nämlich grauer als grau. Dunkelstgrau. Der Blues. Ja, das war er, ließ sich nicht abschütteln. Andere hatten wenigstens um diese Jahreszeit einen Dämon, ich hatte nur diesen Blues in allen möglichen Facetten, musste jetzt womöglich wieder wochenlang mit ihm herumlaufen, mal dem Wetter-Geht-Mir-Auf-Den-Keks-Blues, dann dem Ist-alles-nicht-mehr-wie-früher-Blues und eben in diesem Moment mit dem Erinnere-mich-nicht-an-den-Tanz-Blues. Niemandem hatte ich die Gruselstory erzählt, mir würde sie ohnehin niemand glauben. Wie ich nur so dusselig sein konnte und dieser Ausgeburt von Raffinesse auf den Leim gehen, der Frau, die überhaupt nicht tanzen konnte und wie ein hölzernes Gerät über die Fläche geschoben, gezogen und gezerrt werden musste, selbst beim allereinfachsten Blues. Dieses Tanzgerät entpuppte sich als hinterlistiges Miststück, wollte mir weismachen, mich aus einem früheren Leben zu kennen, erzählte mir was von einem weißen Schimmel, den ich abends unter einer Weide am Fluss abgeholt hätte und auf dem ich fortgeritten wäre und behauptete, am Ende der Straße zu wohnen. Dort war jedoch kein Haus, wie ich eigentlich hätte wissen müssen, ich Depp. Und mir war es noch immer ein Rätsel, mit welchen Mitteln sie es geschafft hatte, mich an der Nase herumzuführen. Also, am Ende der Straße war nämlich der Friedhof. Dahin hatte sie mich gelockt, mitten in der Nacht. Naiv, wie ich war, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, auf das Gräberfeld zu schleichen, natürlich bei Vollmond, versteht sich. Über der Leichenhalle stand der und warf einen riesigen Schatten auf den Weg zwischen den Bäumen. Und da! Ich traute meinen Augen nicht. Vor dem Portal wartete schon ebendiese Bluestanzfrau auf mich, fixierte mich mit saugendem blauem Blick und schwebte auf mich zu. Wahnsinnig verlockend sah sie aus in dem sachte wehenden, silbrigglänzenden Gewand. Ihr Lächeln war hinreißend.
„Da bist du ja endlich“, flüsterte sie. „Wie ich mich nach dir gesehnt habe!“
Ein kalter Hauch berührte mich, als sie die Hände nach mir ausstreckte.
„Warum bist du hier?“, stotterte ich.
„Deinetwegen.“
Ich verstand nichts mehr.
„Von weit her bin ich gekommen.“
„Aber wir haben doch gerade erst miteinander ...“
„Ja, ja“, hauchte sie. „Es war so schön.“
„Ich verstehe nicht.“
„Lass uns fliegen.“
„Wie das denn?“
Mir wurde schwummerig. Wäre ich doch niemals hierher gekommen, auf diesen Gottesacker!
„Fliegen. Nur wir zwei“, fuhr sie fort.
„Du bist doch tot, sonst könntest du nicht … sonst wärest du nicht hier.“
Oder doch? Mich schauderte. Ich wollte weglaufen, kam aber nicht von der Stelle.
„Ich sehne mich nach deiner Wärme.“
Ganz leise war ihre Stimme.
„Umarme mich.“
Ich ging einen Schritt zurück.
„Drück mich an deinen Körper, bitte“, flehte sie und kam näher.
„Ich kann nicht.“
„Doch, du kannst.“
„Lass mich gehen!“, wehrte ich ab.
„Warum willst du vor mir fliehen?“
„Ich bin noch nicht so weit.“
„Begreife doch, mein Liebling.“
„Was soll ich begreifen?“
„Ich will dich nicht hinüberziehen. Du kommst freiwillig.“
„Nein, es geht nicht.“
„Wir werden glücklich sein.“
„Nein!“
„Lieben will ich dich, damit du nicht mehr traurig bist.“
„Was meinst du?“
„Nur ab und zu. Dann bin ich auch nicht mehr traurig.“
„Nein, nein. Ich muss jetzt gehen.“
Ich tastete mich rückwärts. Voller Sehnsucht sah sie mich an, folgte mir mit ausgestreckten Armen und ihrem unwiderstehlichen Lächeln. Je schneller ich mich fortbewegte, desto näher kam sie. Ich wagte nicht, mich wegzudrehen und ging Schritt für Schritt weiter, so schnell ich konnte, bis mein pochender Schädel an etwas Hartes stieß.
Das Friedhofstor.
Das verdammte Weib aus jener Sommernacht verfolgt mich doch noch immer, dachte ich.
Dabei kannte ich die Bluestanzfrau inzwischen ganz anders. Vom Esoteriktrip hatte ich sie heruntergeholt und sie hatte mir beigebracht, wie ich auch mit einer unbegabten Tänzerin Blues tanzen konnte.
Ich ging durch die Blätterallee, den Weg zwischen den Gräberreihen, den meine Beine schon fast automatisch machten, mit oder ohne die gelbe Gießkanne, denn gelb mochte sie, die üblichen grünen lehnte sie ab. Heute bei dem useligen Wetter also ohne Gießkanne. Am Wasserbecken vorbei nach links, drei Gräber weiter, dann wieder nach links zum weißen Marmorgrabstein mit dem Bild, oval gerahmt, wie sie es gewünscht hatte, nach ihren Vorgaben über dem dunkelgrauen Schriftzug platziert. Ja, die weißhaarige Frau da auf dem Foto war sie, wie sie leibte und lebte, hatte ja nur noch mich, ihren Augenstern, so nannte sie mich oft, das Beste, was ihr in ihrem Leben passieren konnte, das Allerbeste, ihr Eins und Alles. Ihr Lächeln sollte mir erhalten bleiben, ein Lächeln, das nie vergehen würde. Nur für mich. Unwiderstehlich.
„Wie läufst du denn wieder herum, Junge? Ohne Jacke. Du wirst dich erkälten. Zieh dich beim nächsten Mal warm an. Denk auch an den Schal. Du weißt doch, die kalte Jahreszeit hat’s in sich.“
„Ja, Mama.“
„Und deine Haare. Wie das aussieht! Geh mal wieder zum Frisör.“
„Jaha.“
„Gegessen hast du auch noch nichts. Ich sehe es dir doch an. Wie oft muss ich dir das noch sagen? Du treibst Raubbau mit deiner Gesundheit. Kein Gramm zugenommen hast du seit dem letzten Mal, eher sogar abgenommen, so blass, wie du wieder bist. Wann wirst du endlich erwachsen?“
Ich hatte ausgiebig gefrühstückt, mit Lachs, Käse, Schinken, Gürkchen, Tomaten, Radieschen und einem traumhaften Müsli. Nicht allein. Und das würde ich jetzt immer so machen. Immer so, wie ich das wollte. Genau so. Doch das musste ich ihr ja nicht erzählen.
„Schau, Mama, heute zünde ich drei Kerzen für dich an, damit du dich freust, okay?“
Sie blieb stumm.
„Dann bis zum nächsten Mal, Mama.“
Auf dem Weg zum Auto wurde der Grablichterblues in meinem Kopf immer leiser, bis er gar nicht mehr zu hören war.

Kurzgeschichte aus:


Mittwoch, 16. September 2015

Ja, sicha!

Hey, Kläusken, da biste ja wieder. Komm hier annen Tresen. Stell dich einfach dabei, wie gehabt.

Siggi, alter Kumpel, grüß dich.

Wo warste so lange? Wolltest doch jezz wieder öfter inne Kneipe kommen, haste letztes Mal gesacht.

Viel Arbeit und alles Mögliche, hat irgendwie nicht geklappt.

Jau, dat kenn ich. Aber du weißt doch. Hier stehn die, die hier immer stehn.

Klar, ich weiß Bescheid.

Nur auffe Südtribüne stehn is schöner, und singen, hömma: ‚Olé, jetzt kommt der BVB …’

Ja, ja, kenn ich: Die Pet Shop Boys.

Wer is dat denn?

Scherz beiseite. Die hab ich letztens in Münster gesehen. Go West. Bombastische Bühnenshow, auch wenn die zwei Jungs nicht mehr ganz taufrisch sind.

Jau, wem sachste dat? Schon gehört von Horsti?

Nee, was ist mit dem?

Kommt morgens inne Küche, fällt um und dat wars. Genau so alt wie ich.

Kann ich gar nicht glauben, der stand doch mit uns hier an der Theke, beim letzten Mal. Krank sah der nicht aus.

So kann’s kommen. Da steckste nich drin.

Traurig, tut mir echt leid. Manche trifft’s doch sehr früh.

Wieder einer weniger auffe Südtribüne. Doch ich hör schon auf mit Fussball. Is ja nich dein Ding. Macht abba nix, bist trotzdem en netten Kerl.

Ich hab nichts gegen Fußball. Und wenn ich mich unter all den Vereinen entscheiden müsste, würde ich natürlich Schwarzgelb wählen, ganz klar.

So is richtig. Komm mir ja nich mit de Blauweißen. 


Nein, nein, keine Bange.

Sach ich doch. Darauf nehmen wir jezz einen. Uschi, mach noch mal zwei Pils, Kläusken hat auch Durst.

Lass nur langsam gehen, Siggi.

Mach ich. Is jedenfalls schön, datte mal wieder hier bist. Hatteste die letzte Zeit viel zu tun inne Klapse?

Ja, ja.

Abba du bis doch kein Züchiater, oder?

Erzieher, wenn du so willst. Oder Sozialpädagoge im Fachjargon.

Erzieher reicht schonn. Iss auch nich imma einfach mitte Blagen heutzutage, hängen den ganzen Tach annen Computer.

Wenn es nur das wär, weswegen sie in die Psychiatrie kommen.

Ich wette, du könntest Stories ohne Ende schreiben von de Sachen, die de jeden Tach inne Klapse erlebst. Doch jezz erst mal: Prösterchen.

Auf dein Spezielles, Siggi.

Biste übrigens immer noch bei diese Litteraten im Internet? 


Klar doch.

So klar war dat letztens gar nich, als de hier warst. Da wolltest de die Brocken hinschmeißen.

Weiß ich gar nicht mehr. Warum das denn?

Weil de dich so geärgert hast.

Worüber?

Über son fiesen Möpp. Der ging dir total auf en Zeiger.

Vergessen.

Gut so.

In diesem Monat gibt’s da sogar was zu Feiern.

Jubiläum?

Genau. Und zu dem Thema will ich auch was schreiben.

Wat kann man denn dazu schreiben? 


Ein paar Ideen hab ich wohl. Zum Beispiel die Local Heroes hier an der Theke. Ja, lach nicht, alter Kumpel.

Ich staune nur.

Oder fünfzig Jahre nach der Apokalypse, wär doch auch mal was.

Apo wat?

Weltuntergang.

Ach jau, jetzt fällt’s mir auch wieder ein. Schreib doch einfach wat zum Jubiläum bei de Litteraten im Internet. Wat für eins feiert ihr da denn einglich?

Zehnjähriges.

So lange gibt’s euch schon? Zehn Jahre is kein Pappenstiel. 


Genau. Und danke für die Idee, Siggi.

Bitte.

Darauf nehmen wir jetzt einen.

Dat will ich meinen. 


Pils?

Wat denn?

Und en Kurzen dabei?

Ja, sicha!




(C) Renate Hupfeld 

Schote aus: Noch mehr Schoten, Schreib-Lust Verlag Dortmund 2012




Mittwoch, 9. September 2015

Sieben



In einem Vogelpark irgendwo in der Heide lebte ein Pfau, der einmal der schönste Vogel weit und breit gewesen war. Er hieß Peacock. Diesen Namen hatte ihm ein kleiner Junge aus Amerika gegeben, zu Zeiten, als die Leute noch von weit her kamen, um ihn zu sehen, wenn er an sonnigen Nachmittagen über die Wiese stolzierte und seine langen Schwanzfedern auffächerte zu einem Pfauenrad in schillerndem Türkis. Nach dem Tod seiner Frau waren die glücklichen Zeiten vorbei. Peacock war der einsamste Vogel im Park. Er wurde von Tag zu Tag schwächer und traute sich bald nicht mehr auf die Wiese zu den Menschen.
Als eines Tages ein anderer Vogel von den Parkbesuchern bewundert wurde, konnte er das Elend nicht länger ertragen. Durch ein Loch im Zaun schlüpfte er hinaus und ging los. Nur weg von diesem Ort! Irgendetwas würde er schon finden, vielleicht sogar ein bisschen Freude. Der Weg führte über weite Felder auf einen schmalen Pfad im Wald. Das Laufen fiel ihm schwer, doch er kämpfte sich weiter, selbst als nach einer Weile das Gestrüpp sehr dicht wurde. Unter einem modrigen Baumstamm fand er einen Platz für die Nacht und schlief sofort ein.
Am nächsten Morgen sah die Welt gar nicht mehr so trostlos aus. Die Sonne blinzelte durch die Blätter, sie machte den Wald hell und grün. Und plötzlich entdeckte er, dass er nicht allein war. Eine Ziege hockte neben ihm und beobachtete ihn still.
„Wer bist du denn?“, fragte Peacock erstaunt.
„Frage lieber, wer ich einmal war und warum ich mich hier verstecke“, antwortete die Ziege. „Ich war für meine Beweglichkeit bekannt. Kein Berg war mir zu hoch, kein Hang zu steil und keine Felsspalte so breit, dass ich nicht hinüber springen konnte. Jedes Jahr konnte ich ein Junges aufziehen, so kräftig war ich.“
„Und was führt dich nun ausgerechnet hierher in dieses Dickicht?“
„Ein Unglück. Ich bin in einen Abgrund gestürzt. Mit Mühe konnte ich mich befreien. Doch es war vorbei mit Klettern und Springen. Meine Kinder waren über alle Berge und ich war ganz alleine. Ja, ja, wie das Schicksal so über einen hereinbrechen kann! Dich hat’s ja wohl auch böse erwischt, sonst wärest du doch in einem feinen Park und nicht einsam hier im wilden Wald.“
„Ich war die Attraktion des Vogelparks“, schwärmte der Pfau. „Mit Frau und Kind wohnte ich gemütlich in einem schönen Nest, bis der Parkdirektor unseren Sohn verkaufte und meine Frau vor Kummer starb.“
„Traurig, traurig“, sagte die Ziege.
Während sie gemeinsam die Brocken verspeisten, die sie zum Frühstück gesammelt hatte, Würmer und Larven für den Pfau, Blätter und Wurzeln für sich selbst, erzählte Peacock weiter von den glücklichen Zeiten und wie sehr er sich wünschte, noch einmal sein türkis schillerndes Pfauenrad aufzufächern.
Gemeinsam schleppten sie sich weiter.
„Was meinst du, wie viele Tage wir noch gehen müssen?“, fragte die Ziege, als sie am Abend unter einem Strauch nebeneinander lagen.
„Kommt Zeit, kommt Rat“, sagte der Pfau und schlief wieder auf der Stelle ein.
Am nächsten Morgen gingen sie weiter wie tags zuvor, bis ein Hahn in den Wald gestolpert kam.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte Peacock. „Wie dein schöner roter Kamm so schlaff herunterhängt. Nach Chef vom Hühnerhof sieht das nicht gerade aus!“
„Eher zum Herzerweichen“, ergänzte die Ziege. „Erzähl mal, was dir passiert ist, Hahn.“
„Die Bauersleute meinten, es gäbe nicht mehr genug Küken. So holten sie einen jungen Gockel auf den Hof und die dummen Hühner haben nur noch Augen für ihn. Dem Angeber schieben sie die leckersten Körner hin und ich soll zusehen. Das kann doch nicht alles gewesen sein, hab ich mir gedacht, und bin weggegangen.“
„Komm mit uns, wo zwei sind, können auch drei sein“, sagte der Pfau.
Zu dritt gingen sie weiter, bis sie einen Schlafplatz für die Nacht fanden.
„Wetten, dass wir morgen wieder jemanden finden, den das Unglück getroffen hat?“, überlegte die Ziege.
„Kommt Zeit, kommen Freunde“, sagte Peacock und schlief wieder schnell ein.
Als sie am nächsten Tag eine Weile gegangen waren, stand plötzlich ein Esel mitten im Weg und wollte sie nicht vorbei lassen.
„Nicht so störrisch, altes Grautier. Uns kannst du nichts vormachen. Glücklich siehst du nicht gerade aus. Sag’s doch frei heraus, dass du Kummer hast.“
„Stimmt ja, was du sagst, kluger Pfau“, meinte der Esel. „Kummer ist gar kein Ausdruck. Meine glücklichen Tage sind längst vergangen. Mein Fell ist struppig geworden, ich werde nicht mehr gebraucht. Selbst die Ponys auf der Weide stoßen mich weg. So macht das Leben keinen Spaß mehr. Ich sehe, ihr seid zu dritt. Wenn ich mich zu euch gesellen könnte, ging’s mir vielleicht besser.“
„Wo drei sind, können auch vier sein“, sagte der Pfau und sie gingen zu viert weiter. Am Abend fanden sie wieder einen guten Schlafplatz und jeder träumte von der Überraschung, die der nächste Tag vielleicht bringen würde.
Die ließ dann auch nicht lange auf sich warten. Unter einem Busch hockte eine Gans. Ängstlich lugte sie zwischen den Ästen hervor.
„Was ist mit dir? Du zitterst ja, dass der ganze Busch bebt.“
Zögernd kroch sie heraus.
„Ach guter Pfau“, stöhnte die Gans. „Mein Jüngling, der mich die ganze Zeit auf dem Arm getragen und mir zu Fressen gegeben hat, weil ich so goldig war, ist durch mich der Bräutigam einer Königstochter geworden. Er hatte nur noch Augen für seine Liebste und vergaß mich. Da bin weggeflogen und dabei ist dieses Malheur passiert.“ Sie zeigte auf ihren Flügel, der kraftlos herunterhing. „Eigentlich will ich nur noch sterben. Was soll ich denn noch hier?“
„Nein, nein, nein!“ Peacock schien fast ein wenig zornig. „Das wird schon wieder. Dein Flügel ist gebrochen, das braucht Zeit. Komm derweil mit uns. Laufen kannst du doch. Wo vier zusammen sind, können auch fünf sein.“
Und schon watschelte die Gans mit in der Reihe. Nachdem die Fünf die Nacht unter einer Hecke verbracht hatten, gingen sie am nächsten Morgen weiter, schon darauf wartend, dass auch an dem Tage wieder ein Tier Hilfe brauchte. Prompt lief ihnen ein kleines Schwein mit heftig wirbelndem Ringelschwanz entgegen und wollte schon vorbeirennen.
„Halt, was ist denn mit dir los, Schweinchen?“, fragte der Pfau, der nach den Erlebnissen der vergangenen Tage seine Einsamkeit völlig vergessen hatte.
„Ich hatte mir ein schönes Haus gebaut, in dem ich alles hatte, was ich zum Leben brauchte und in dem ich in Frieden wohnen wollte“, antwortete das Schwein. „Doch dann klopfte der Wolf an die Tür. ‚Kleines Schweinchen, kleines Schweinchen, lass mich rein’, schmeichelte der, hatte natürlich Kreide gefressen, doch darauf fiel ich nicht herein. ‚Nein, nein, nein, nicht im Traum lass ich dich rein’, rief ich hinaus. ‚Dann werde ich husten und prusten und dein Haus einfach umpusten’, brüllte er voller Wut und rüttelte und schüttelte so heftig an meinem Häuschen, dass ich’s mit der Angst bekam. Da bin ich durch die Hintertür entwischt und weggelaufen, so schnell ich nur konnte. Seitdem bin ich auf der Flucht.“
„Komm mit uns. Wo fünf sind, können auch sechs sein. Und vor dem Wolf musst du dich gar nicht mehr fürchten. Wenn er kommt, kratze ich ihm die Augen aus, so wahr ich Peacock heiße.“
„Und ich meckere ihn gehörig an“, sagte die Ziege.
„Ich krähe dem Bösewicht so laut ins Ohr, dass ihm Hören und Sehen vergeht“, meinte der Hahn.
Der Esel versprach, ihm mit dem Huf einen Tritt in den Bauch zu versetzen und die Gans wollte ihm mit ihrem gesunden Flügel so heftig vor den Augen herumflattern, dass er sofort Reißaus nehmen würde. Da beruhigte sich das Schweinchen und konnte endlich wieder eine Nacht lang schlafen.
Als Peacock sich am nächsten Morgen mit seinen fünf seltsamen Gesellen auf den Weg machte, dachte er darüber nach, wie es mit ihnen weiter gehen könnte. Er meinte, dass es nun an der Zeit sei, eine Bleibe zu finden. Sie konnten doch nicht ewig so weiter wandern. Er grübelte und grübelte, doch es wollte ihm nichts Rechtes einfallen. Als er am Rande eines Weizenfeldes einen Fuchs erblickte, der dort ganz allein saß und in den Himmel schaute, spürte er, dass es mit seiner Hilfe eine Lösung geben könnte.
„Hallo Fuchs, was machst du denn da?“, fragte er.
Der Fuchs erschrak, doch nur ganz kurz.
„Ich sitze hier seit Jahr und Tag und schaue zu den Sternen. Darüber bin ich zwar grau geworden, aber ich will die Sterne anschauen, solange ich lebe.“
„Auch am hellichten Tag?“
„Die Sterne sind immer da, bei Tag und bei Nacht. Auf einem von ihnen wohnt mein Prinz. Er lächelt mich an. Davon kann ich gar nicht genug bekommen und er auch nicht.“
„Deinen Prinzen darfst du natürlich nicht enttäuschen. Er wird jedoch auch nichts gegen neue Freunde haben, vor allem, wenn sie deine Hilfe brauchen.“
Der Fuchs schaute weiter in den Himmel. Man sah ihm aber an, dass er über Peacocks Worte nachdachte.
„Mein Prinz würde von mir erwarten, dass ich helfe, wenn ich gebraucht werde“, sagte er leise.
„Siehst du?“, meinte der Pfau. „Schau sie dir an, unsere kleine Schar der Unglücklichen. Meinst du nicht, dass dir dazu etwas einfällt?“
Der Fuchs sah in die Runde und als alle ihn mit traurigen Augen ansahen, hatte er sogleich eine Idee.
„Ich sehe, ihr braucht dringend Rat und Hilfe, ihr lieben Tiere“, sprach er zu ihnen.
Alle nickten, der Pfau, die Ziege, der Hahn, der Esel, die Gans und das Schwein. „Mir fällt auch schon etwas ein. Von meinem Prinzen weiß ich, dass es jemanden gibt, der euch wieder so jung, schön und beweglich machen kann, wie ihr einmal ward, in glücklichen Zeiten. Es ist Meister Bonifatius, der verzaubert Tiere, die in Not geraten sind.“
„Wie schön“, riefen alle sechs im Chor.
„Seid ihr denn bereit, Erwachsenen und Kindern Freude zu bereiten?“
Alle nickten.
„Zu jeder Tages- und Nachtzeit? Bei Sturm, Regen und Schnee?“
Wieder nickten alle.
„Na gut. Jedoch müsst ihr drei Bedingungen erfüllen.“
Erwartungsvoll schauten sechs Augenpaare den Fuchs an, der plötzlich wieder sehr nachdenklich wirkte.
„Freunde müsst ihr sein. Und ihr müsst sieben sein.“
„Sechs Freunde sind wir schon“, überlegte der Pfau. „Wie sieht’s denn mit dir aus, Fuchs? Wenn du zu uns kommst, sind wir sieben. Das Lächeln deines Prinzen siehst du doch an jedem Ort. Und ein bisschen weniger Einsamkeit wäre auch für dich nicht verkehrt. Wo sechs sind, können auch sieben sein.“
Der Fuchs zögerte lange, dann hatte er sich entschieden.
„Wenn ihr meint, ich sollte dabei sein, dann will ich das auch. Die Sterne sind ja schließlich überall.“
Ein hörbares Aufatmen machte die Runde.
„Und die dritte Bedingung, Herr Fuchs?“, fragte die Gans ein wenig schüchtern.
„Ihr braucht, ich meine, wir … wir brauchen einen König.“
Sofort richteten sich alle Blicke auf den Pfau.
„Wer sonst käme in Frage als Peacock?“, stellte der Esel fest. „Schon allein wegen seiner blauen Brust und dem königlichen Kopfschmuck. Dagegen wird es wohl keine Einwände geben.“ Und das war auch so.
„Würdest du denn diese Bürde auf dich nehmen?“, wandte sich der Fuchs an den Pfau.
„Wenn ihr alle mir das zutraut, dann traue ich es mir auch zu und will euch ein würdiger König sein.“
„Gratulation“, krähte der Hahn und alle klatschten Beifall.
„Nun gut. Als König wende ich mich gleich mit einer Aufgabe an dich, Fuchs. Führe uns zu diesem Zauberer Bonifatius.“
Erwartungsvoll schauten wieder sechs Augenpaare den Fuchs an.
„Von meinem Prinzen weiß ich, wo wir ihn finden“, antwortete der. „Wir müssen der Sonne entgegen gehen. Irgendwann erscheint am Horizont ein grüner Kirchturm. Dann ist es nicht mehr weit. Doch geh du voran, König Peacock. Das gehört sich so für einen Herrscher. Als Letzter in der Reihe achte ich darauf, dass keiner zurück bleibt.“
„Wer hätte das vor ein paar Tagen gedacht?“, murmelte der Pfau und wanderte los, die anderen sechs trotteten hinterher.
Die Sonne stand schon sehr tief, als die Tiere in der Ferne den grünen Kirchturm erblickten und sie war bereits untergegangen, als sie einen kleinen See erreichten. Unwillkürlich blieben sie stehen, denn sie wurden geblendet von tausend und abertausend winzigen Lichtfiguren, die flimmernd aus der Mitte des Gewässers in die Höhe stiegen, in einer Leuchtspirale hinunterwirbelten, glitzernd im Wasser versanken, um dann gleich wieder aufzusteigen. Fasziniert schauten sie zu, wie das Lichtspiel immer wieder von vorne begann, so lange, bis die Kirchturmuhr zur Mitternacht schlug. In dem Moment waberte eine Nebelwolke hinunter, in der zunächst Augen und Mund zu erkennen waren, bis dann plötzlich ein Mann vor ihnen stand. Sein weißer Bart hing über einem dunklen Umhang. In der Hand hielt er einen Lichtstab. Kein Zweifel, das musste der Zaubermeister sein.
„Meine Elfen haben mir euer Kommen bereits angekündigt und mir mitgeteilt, dass ihr alle dringend Hilfe braucht“, sagte er sanft.
Mit seinem Stab leuchtete er von Gesicht zu Gesicht. Auf dem von Peacock ließ er den Lichtschein ruhen.
„Ich sehe, du hast diese kleine Schar der Unglücklichen hierher geführt. Hast du mir etwas zu sagen?“
„Ja, Meister, das habe ich“, sagte der Pfau, trat einen Schritt auf Bonifatius zu und zitierte sein Sprüchlein, das er sich auf der langen Wanderung ausgedacht hatte.
„Ziege und Hahn, der Freundschaftskreis fängt an,
Esel, Gans und Schwein, alle kommen hinein,
Fuchs ist geblieben, so sind wir sieben,
Königsfedern in blau, trägt Peacock der Pfau.“
Während Peacocks Rede hatten sich die Tiere nacheinander in einen Kreis um den kleinen See herum aufgestellt. Der Pfau verbeugte sich vor dem Zauberer und trat an seinen Platz zwischen Ziege und Fuchs. Bonifatius war zufrieden. Er breitete seine Arme aus und sprach:
„Sieben kamen her,
Laufen fiel ihnen schwer,
Freunde groß und klein,
Jung sollen sie sein.
Hammsalabim.“
Dann schwebte er in seiner Wolke davon. Im gleichen Moment kehrte das Glück zu den Tieren zurück. Jedes wurde wieder jung und schön, die Ziege bekam ihre beweglichen Beine zurück, der Hahn seinen aufrecht gezackten Kamm, der Esel sein glattes Fell, die Gans ihren gesunden Flügel, das Schwein sein ordentlich geringeltes Schwänzchen, der Fuchs seine rötlich leuchtende Farbe und König Peacock sein prächtiges Pfauenrad in Türkis. In ihrer gewohnten Runde standen sie um eine Brunnensäule herum, von der es über spiralförmig umlaufende kleine Wasserräder sprudelte und spritzte. Sie blieben für immer zusammen, freuten sich am fröhlichen Lachen der Kinder, die mit ihnen spielten und amüsierten sich, wenn mehrere gleichzeitig auf ihrem König reiten wollten. An warmen Sommerabenden lauschten sie dem Flüstern der Liebespaare und in frostigen Winternächten erzählten sie sich Geschichten, von schweren und von glücklichen Zeiten, von den Tagen, an denen sie Freunde wurden und vor allem von dem Tag, an dem Bonifatius sie wieder jung zauberte. Und wenn sie nicht gestohlen sind, dann stehen sie noch heute auf dem Marktplatz neben der Kirche mit dem grünen Turm.

(C) Renate Hupfeld

Märchen aus den Kurzgeschichten Sammlungen:

Mittwoch, 29. Juli 2015

Nachtcafé


„Ist doch kein Zufall, dass Vincent in die Mitte des Bildes ein Liebespaar gemalt hat.“
„Ein Liebespaar?“
„Sieh mal, Jana, all die anderen Figuren sind schwarz oder grau, aber die beiden in der Mitte sind orange.“
„Stimmt, vielleicht hätte er gerne mit seiner Geliebten da gesessen.“
„Vielleicht. Stattdessen hat er auf dem ‚Place du Forum’  seine Staffelei aufgestellt und malt ein Bild, das im Jahre 1888 keiner sehen wollte.“
„Du hast mir mal erzählt, dass sein Bruder Theo ihm immer die Farben nach Arles schicken musste, weil keiner seine Bilder kaufte.“
„Und nach seinem Tod haben viele Leute sehr viel Geld mit seinen Bildern verdient. Schade, dass er seinen Erfolg nicht erleben konnte. Aber auf der anderen Seite hatte er ganz viel Freude beim Malen. Du siehst ja, wie toll die Farben sind.“
„Ja, obwohl Nacht ist. Wie die Nacht leuchten kann. Blau und gelb. Meinst du, er hatte Kerzen auf dem Hut, wie du mir aus dem Buch vorgelesen hast?“
„Über Vincent ist viel Blödsinn geschrieben worden. Auch die Story mit den Kerzen auf dem Hut soll eine Legende sein.“
„Er brauchte gar keine Kerzen. Die Lampe auf der Caféterrasse ist so hell, dass der ganze Platz beleuchtet ist. Und die Sterne. Guck mal, wie hell sie leuchten.“
„Vincent hätte sich nicht vorstellen können, dass das Bild mal hier in der Raststätte an der Wand hängt, wo Tag und Nacht so viele Menschen es sehen. Und wer weiß, wo es noch überall zu sehen ist. Das Original kann man in einem Museum  in Holland betrachten.“
„Da möchte ich gern mal hin.“
„Ja, aber jetzt sind wir in der Schweiz, das ist weit weg. Wie damals Vincent fahren wir in den Süden, wo es warm ist und wo die Farben schön leuchten.“
Jana holt ihren Fotoapparat aus dem Rucksack und fotografiert das Plakat vom Nachtcafé.
„Wir könnten doch auch nach Arles fahren und gucken, ob die Sterne da so leuchten, wie auf dem Bild. Da sind bestimmt auch viele Bilder von Vincent zu sehen.“
„Nein, in Arles gibt es keine Bilder von Vincent. Die Leute dort hielten ihn für verrückt und wollten ihn nicht mehr haben.“
„Dann will ich doch nicht nach Arles.“
Im Auto nimmt Jana ihren Zeichenblock und malt ihr Bild vom Nachtcafé.
„Papa, an dem Tisch in der Mitte sitzt du mit Mama. Und hier vorne stehe ich und male euch.“
„Und das helle Gesicht da oben am Himmel?“
„Das ist Vincent. Er lacht die Leute von Arles aus.“

©Renate Hupfeld 09/2003



Dienstag, 28. Juli 2015

König Laurin und sein Rosengarten




König Laurin und sein Rosengarten

Vor sehr langer Zeit lebten noch Riesen und Zwerge auf den Bergen und in den Tälern der Alpen. Im Inneren des riesigen Bergmassivs der Dolomiten, das wir heute Rosengarten nennen, herrschte der Zwergenkönig Laurin über sein unterirdisches Reich. König Laurin war sehr reich. Seine prächtige Rüstung aus hellem Golde glänzte in der Sonne, wenn er auf einem schneeweißen Rösslein durch sein Land ritt.
Zu diesem Reichtum hatte König Laurin noch geheimnisvolle Kräfte: Er hatte eine Tarnkappe, die ihn unsichtbar machte, wenn er sie trug. Außerdem besaß er einen mit Edelsteinen geschmückten Gürtel, der ihm die Stärke von sage und schreibe zwölf Männern gab.
Laurins ganzer Stolz war ein wunderschöner Garten vor den Toren seiner Felsenburg. In diesem Garten blühten das ganze Jahr hindurch prachtvolle Rosen in den schönsten Farben. Das leuchtete vom zartesten Rosa bis zum königlichen Samtrot. Die Rosen verströmten einen betörenden Duft, der jedermann glücklich machte, der sich in der Nähe aufhielt. Damit der herrliche Rosengarten gut geschützt war, hatte hatte Laurin um ihn herum einen Zaun aus goldenen Fäden anlegen lassen. Nur durch ein enges Pförtchen konnte man ihn betreten. Der kleine König wachte höchstpersönlich über diese Pracht. Und wehe dem, der mutwillig darin hereinbrach oder auch nur eine Rose pflückte. Dann konnte der kleine König äußerst grausam sein. Er ließ dem Übeltäter gnadenlos die linke Hand und den rechten Fuß abhacken.
An einem schönen Sommertag machte König Laurin unsichtbar durch seine Tarnkappe mit seinem Wagen eine Fahrt durch die Lande. Dabei erreichte er die Gefilde einer fremden Burg. Der Burgherr hatte eine wunderschöne Tochter namens Simhilde. Als König Laurin das schöne Mädchen auf einer Blumenwiese entdeckte, verliebte er sich bis über beide Ohren. Unbemerkt näherte er sich der schönen Simhilde und nahm sie in seinen Wagen und entführte sie in sein Zwergenreich.
Auf der Burg herrschte Bestürzung und Trauer, als Simhilde verschwunden war. Ihr Bruder Dietrich von Bern machte sich auf die Suche und fand sie nach langer Zeit im Reich des Zwergenkönigs Laurin. Es kam zu einem heftigen Kampf, bei dem König Laurin im Vorteil war mit seiner Tarnkappe und dem Gürtel, mit dem er so stark war wie zwölf Männer. Jedoch konnte Dietrich ihn überlisten und ihm Tarnkappe und Gürtel entreißen.
Simhilde wurde befreit und zu ihrem Vater zurück gebracht. Laurin aber wurde nach Bern ins Gefängnis gebracht. Es gelang ihm jedoch sich zu befreien und zu seinem Schloss mit Rosengarten zurückzukehren.
Dort fand er alle seine Untertanen erschlagen vor. Das machte ihn so traurig, dass er an nichts mehr Freude hatte, selbst nicht an seinem Rosengarten. Da sprach er einen Fluch aus, der besagte, der Rosengarten solle zu Stein werden. Die Rosen sollten für niemanden mehr sichtbar sein, weder bei Tag noch bei Nacht.
König Laurin hatte aber die Dämmerung vergessen. Deswegen können wir auch heute noch immer den wunderbaren Rosengarten sehen, immer wenn an schönen Tagen die Sonne untergeht und die Dämmerung beginnt, leuchtet er weit ins Land hinein und alle Menschen können ihn sehen.



Der Drache vom Kreuzkofel



Der Drache vom Kreuzkofel

Es war einmal ein Drache, der lebte in einer felsigen Höhle im Kreuzkofel. Den Bewohnern des Gadertales machte er schwer zu schaffen, denn sein Maul war so groß und seine Zähne so spitz, dass er Menschen und Vieh auf den Almen spielend auffressen konnte. Jeder, der in seine Nähe kam, verschwand auf Nimmerwiedersehen. Kein Wunder, dass die Leute Angst hatten vor diesem Ungeheuer. Die Hirten trauten sich bald nicht mehr, ihre Tiere auf die Almen zu führen.  Als sich die Menschen gar nicht mehr ins Gebirge trauten, kam das Monster zu ihnen hinunter in die Dörfer, durchpflügte Ställe und Stuben und trieb sein Unwesen. Dem edlen Franz auf seinem Schloss in Enneberg kam das Elend der Menschen im Gadertal zu Ohren. Er hatte die beste Armbrust weit und breit, konnte zielen wie kein anderer und vor allem hatte er Mut. Eines Tages machte er sich auf zum Kreuzkofel und fand die Höhle des Untiers. Mit geöffnetem Maul kam es aus seinem Schlupfloch, doch Franz war schneller. Er zielte den Pfeil mitten ins Herz des Monsters. Laut brüllend fiel es in den Abgrund und die Leute im Gadertal waren befreit. 

Sonntag, 29. März 2015

Mensch, Rüdiger

Woher kam der Knall? Uli Meißner sprang von seinem Schreibtisch auf und lief zur Tür, einige Schüler rannten hinaus auf den Flur. Von oben kamen sie die Treppe hinuntergestürmt. „Da rennt einer rum und schießt wild um sich“, hörte er in dem Gekreische. „Los! Los! Los! Schnell raus hier! Treppe runter! Raus aus dem Gebäude! Alle nach draußen!“ Sie drängelten und schubsten. Kreidebleiche Gesichter, Angst in den Augen. Einige schrieen, andere hielten sich am Arm eines Mitschülers fest und ließen sich mitziehen. Dann war es still im Gang.
Er schaute über die Tische im Kunstraum, wo er gerade noch Unterricht gemacht hatte. Angefangene Aquarelle, Taschen neben den Stühlen und Jacken auf den Lehnen. Den Raum abschließen. Auch den benachbarten Materialraum verschloss er. Oder sollte er doch lieber die Türen offen lassen wie beim Feueralarm? Einen Augenblick lang war er völlig ratlos. Ob wirklich alle draußen waren? Sollte er noch mal oben nachsehen? Was würde ihn erwarten nach all den Schüssen und den entsetzlichen Schreien? War es überhaupt richtig gewesen, die Schüler hinauszuschicken? Totenstille jetzt.
Die Tür des Physikraums stand offen. Er schaute hinein und wich entsetzt zurück. Die Kollegin saß auf ihrem Stuhl, den Kopf auf dem Tisch. Große Blutlache. Daneben auf dem Boden lag eine Schülerin leblos in ihrem Blut. Hilfe musste her, ganz schnell. Er rannte zum Fenster an der Treppe und riss es auf. Polizei- und Ambulanzwagen unten auf der Straße.
„Hilfe! Notarzt! Sanitäter! Kommen Sie! Ganz schnell!“, schrie er hinaus.
„Was tun Sie noch da oben?“, brüllte ein Polizist. „Verlassen Sie das Gebäude! Sofort!“ 
Was wussten die denn da draußen? Sie verstanden gar nichts. Er konnte jetzt nicht einfach weglaufen. Wahrscheinlich waren die beiden tot. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht waren sie nur bewusstlos. Was sollte er nur tun? Erste Hilfe hatte er nicht geübt. Am Ende machte er alles nur noch schlimmer.
Das war doch was. Schlurfende Schritte. Er drehte sich herum und erstarrte. Ein schwarzes Phantom fuchtelte mit einer Pistole herum, stieß sie ihm zwischen die Rippen. Er ging rückwärts, das Monster hinterher. Durch die Sehschlitze der Maskierung hindurch fixierte er die Augen des Vermummten und konnte erkennen, wie sie hektisch hin- und herzuckten. Nicht schwach werden jetzt. Aufrecht stehen, so gut es ging mit den schlotternden Knien. Aus Gewohnheit versuchte er, den Schlüsselbund in die Hosentasche zu stecken, den er immer noch in der Hand hielt. Dabei merkte er, dass seine Finger fürchterlich zitterten, sodass er immer daneben griff. Endlich geschafft. Die Nerven. Ihm wurde übel. Ja nicht umfallen. Durchhalten. Er zwang sich, weiter den Maskierten zu fixieren. Da spürte er, wie der Druck der Pistole ein wenig nachließ. Ihm war sogar, als ob auch dessen Finger heftig zitterten. Plötzlich zog sich der Schwarze die Maske vom Gesicht. Der Lehrer erkannte seinen ehemaligen Schüler.
„Mensch, Rüdiger, du? Hast du das alles gemacht? Hast du geschossen?“
Schwer atmend drückte der Demaskierte ihm die Pistole fester auf das Brustbein. Eigentlich müsste Uli Meißner die Nerven verlieren, hing doch sein Leben an diesem kleinen Abzugshebel, den der Finger einer zitternden Hand jeden Moment auslösen konnte.
‚Ich stecke in der Falle’, dachte er sich, ‚jede Bewegung kann tödlich sein.’
„Erschieß mich, aber sieh mir in die Augen dabei.“ Ganz ruhig sagte er das.
Nach kurzem Zögern ließ der Angreifer den Arm mit der Waffe sinken.
„Erst einmal reicht’s, Herr Meißner.“
„Besser ist das. Und nun? Was hast du nun vor?“
„Wenn ich das nur selbst wüsste.“
Immer die gleiche Frage, immer die gleiche Antwort. Und jetzt dieses unfassbare Grauen.
Uli Meißner gelang es, sein Entsetzen zu verbergen. „Da hast du dich ganz gewaltig in die Scheiße geritten und bist so was von ratlos“, sagte er. „Wie willst du nur rauskommen aus diesem Desaster?“
Wie ferngesteuert nestelte er in der Hosentasche, fand den gesuchten Schlüssel zwischen all den anderen und umklammerte ihn. Er ging die paar Schritte zum Materialraum, öffnete die Tür und ließ sie offen stehen. Der Amokschütze war ihm gefolgt und schaute ein wenig verlegen hinein.
„Wie lange ist das jetzt her, Rüdiger? Weißt du noch?“
„Ja, ich erinnere mich. Sie fanden meine Bilder nicht schlecht. Das Plakat in Schwarzweiß. Nicht einmal der Totenkopf hat Sie geschockt.“
„Obwohl ich mich immer gefragt habe, warum du so düstere Bilder malen musstest. Schwarz war deine Lieblingsfarbe. Besonders Friedhöfe hatten es dir angetan.“
„Eins meiner Gräberfelder hatten Sie sogar im Materialraum ausgestellt. Hängt das da noch?“
„Schau nach. Hier kennst du dich doch aus.“
Rüdiger ging hinein und ließ sich erschöpft auf den Stuhl fallen, Uli Meißners Stuhl vor dem großen Tisch, an dem er immer saß, Bilder der Schüler zum Benoten auslegte, Skizzen und Berichte erstellte, seit vielen Jahren seine Rückzugsoase im nervenaufreibenden Schulbetrieb.
„Ich bin sofort zurück“, sagte der Lehrer und schloss von außen ab.
Immer noch den Schlüsselbund in der Hand, lief er den Gang entlang zur Treppe. Da kamen sie schon heraufgestürmt, zwei, drei Männer mit vorgehaltenen Waffen.
„Ist er hier?“, fragte einer. „Haben Sie den Täter gesehen?“
„Ja, aber holen Sie schnellstens Hilfe, dorthin.“ Er zeigte auf die Tür des Physikraums.
„Ist schon unterwegs. Wo ist er? Wir müssen das brutale Schwein finden, bevor es noch mehr Tote und Verletzte gibt.“
„Kommen Sie mit“, forderte der Lehrer die Männer auf. Sie folgten ihm. „In dem Raum ist er. Ein ehemaliger Schüler. Nehmen Sie diesen Schlüssel. Äußerste Vorsicht, der junge Mann ist schwer bewaffnet.“
In dem Moment fiel drinnen ein Schuss.
Uli Meißner ließ sich von einem der Männer wegführen.

© Renate Hupfeld 2010




Freitag, 27. März 2015

Warum sehen sie so normal aus?


Auf dem Parkplatz an der Einfahrt zum Gelände des alten Rittergutes stellt Hannah ihr Auto ab. „Schule in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie“. Hier arbeitet sie seit vielen Jahren. Einige Jungen und Mädchen sind schon Zigarette rauchend in Richtung Schulgebäude unterwegs. Warum sehen sie eigentlich so normal aus, denkt Hannah. Ihre Lerngruppe besteht aus fünf  intelligenten jungen Menschen zwischen siebzehn und zwanzig Jahre alt. Punkt acht Uhr sitzen sie an ihren Tischen, die Blicke auf Hannahs Pult gerichtet. „Diderich Heßling – ein durchtriebenes Kind“ steht an der Wandtafel. Textausschnitte aus einem Roman von Heinrich Mann werden untersucht. Starker Vater, schwache Mutter, das Kind hat Lustgefühle, wenn der Vater es verprügelt, finden die Schüler heraus.
Kurz vor Ende der Deutschstunde wird die Tür des Klassenraums geöffnet. Stefan aus einer anderen Welt. Hannah wundert sich über sein Outfit, billige Jeans und Anorak. Ganz anders als während der Skifreizeit im Allgäu. Stefan mit großem Koffer und einem Schrank voller feinster Klamotten. Sie selbst hatte sich ein Kashmere Sakko für einen Restaurant Besuch bei ihm geliehen. Angeblich Geschenk seiner Mutter.
Hannah beendet die Unterrichtsstunde, formuliert eine Hausaufgabe und schickt die Schüler in die Pause. Stefan steht am Fenster Klassenraums und schaut in Richtung Schulgarten. So wird sie diesen hübschen Jungen in Erinnerung behalten. Später wird sie Bilder von der Skifreizeit betrachten und fest stellen, dass er auf fast allen ihren Fotos zu sehen ist. Stefan bei der Wanderung im Schneetreiben, Stefan im Lift und mit schwarz-weiß geschminktem Gesicht am Abschlussabend.

Dir geht’s schlecht, sagt Hannah.
Ich will wieder in die Schule.
Du kennst unsere Regeln. Wenn du clean bist, kannst du wieder am Unterricht teilnehmen.

„Diderich Heßlings Entwicklung zum Untertan“ schreibt Hannah am nächsten Morgen an die Tafel. Sie gibt den Schülern ein Arbeitsblatt mit Aufgaben und Hinweisen. Während die Gruppe arbeitet, klingelt das Telefon auf Hannahs Tisch.
Stefan ist tot. Er wurde in einem Stundenhotel in der Nähe des Dortmunder Hauptbahnhofs gefunden. Überdosis.

Renate Hupfeld am 24. August 2002  während des Arnsberger Kunstsommers im Workshop „Kurze Texte“ mit Michael Klaus 

Montag, 9. März 2015

Holly und die Second



Pastor Sundermeier meint es ja gut, doch er kann mir nicht helfen. Was versteht der schon? Überlege dir gut, was du tust, Holly, hat er gesagt.
Da ist nichts mehr zu überlegen, Herr Pastor. Ich habe mir das gut überlegt und alles bestens vorbereitet. Es gibt keinen anderen Weg. Ich habe getan, was ich konnte. Immer treu zu ihm gehalten, ihm aus der Patsche geholfen, als er den Job verloren hatte, mich um den ganzen Scheiß in Haus und Garten gekümmert, geputzt, gewaschen, eingekauft, gekocht, jeden Morgen seine Sachen weggeräumt, Schuhe im Wohnzimmer eingesammelt, in den Schuhschrank gepackt, seine Hemden gebügelt, Socken sortiert wie blöde. Wie er es wollte. So, wie es sich gehört. Selbst diese neuen Boxershorts hab ich fein zusammengelegt. Mehr geht nicht.
Was Manfred dazu sagt?
Nichts. Gar nichts. Wie denn auch? Midlife ist angesagt.
Verstehst du nicht?
Dachte ich mir. Mitternacht ist längst vorbei und der ist immer noch nicht in seinem Bett. Das ist Midlife.
Wo er ist?
Fitnessstudio oder Tennis, was weiß ich denn? Mich geht das doch nichts an, sagt er, und schon gar nicht seine Geschäftsreisen. München, Hamburg, Berlin und Frankfurt. Ein ganz neues Outfit und Duftwasser hat er sich zugelegt, Hemden nicht mehr von P & C, sondern von diesem Laden in der MyZeil. Der stellt sich doch tatsächlich mit den Kids vor den Eingang mit den Sixpack Beachboys, um sich das Zeug zu beschaffen. Was sagst du dazu, Pastorchen? Fast fünfzig Jahre alt und wartet geduldig in der Schlange, wo allerhöchstens mal Papas für ihre Kleinen Mitbringsel besorgen, zum Beispiel T-Shirts oder Hemden mit diesem Label. Frei wie ein Vogel. So weit ist es mit ihm gekommen.
MyZeil kennst du nicht?
Woher auch? Macht ja nichts.
Neuerdings zieht es ihn auch in Diskotheken. Wahrscheinlich nicht alleine. Interessiert mich gar nicht, mit wem er sein Spielchen treibt. Mit mir jedenfalls nicht mehr.
Meine Phantasie geht mit mir durch?
Stimmt, geht sie, doch anders, als du es dir vorstellen kannst.
Durststrecke im Leben? Gute und schlechte Tage?
Hör auf mit diesem Durchhaltequatsch, kleiner Pastor. Du machst es dir einfach, stellst dich auf die Kanzel und schaust in fromme Gesichter. Nichts gegen deine Predigten, doch die sind in den Wind gesprochen. Du hörst auch nicht, wie sie übereinander herziehen, hinterher, wenn sie das Gotteshaus verlassen, wo du Nächstenliebe predigst. Wer weiß, was sie über mich reden. Und weißt du, was mir klar geworden ist? Am Sonntag in der Kirchenbank knien und in das ewige Licht glotzen bringt mir nichts.
Glotzen ist zu heftig?
Na gut, nehme ich zurück. Verklärt gucken trifft es auch. Ich jedenfalls nicht mehr. Und was ich dir schon immer sagen wollte: Dein Landfrauenverein ist nicht meine Welt. Radeln für einen guten Zweck hört sich zwar als Aufhänger im Blättchen gut an, doch das geht auch ohne mich. Und Kuchen backen für den Missionsbasar können sowieso andere besser. Ich bin keine Landfrau.
Vermitteln willst du, mit Manfred reden, ihn fragen, warum er in der Gegend herumturnt, anstatt in seinem Hause bei Holly?
Vergiss es. Ich habe gearbeitet, wird er dir antworten. Lügen, alles Lügen. Frag ihn lieber, warum er sich diesen verdammten Stress macht.
Du findest ihn ganz nett und glaubst ihm, dass er viel Arbeit hat?
Eigenartig. Alle, die ihn nicht kennen, finden ihn okay und charmant. Naiv bist du, Sundermeier, kannst dir nicht vorstellen, dass er das Graue vom Himmel runterlügt. Was verstehst du von Midlife?
Jetzt schweigst du.
Es kommt noch schlimmer. Mit mir hat das nichts zu tun, hat der gesagt. Knaller, findest du nicht? Um sein Leben geht es, um nichts anderes. Das fließt ihm unter den Händen weg. Und er hat nur eins. Ja, ja. Leben will er endlich. Mit mir hat das gar nichts zu tun. Was sagst du dazu?
Ich soll nicht zynisch werden? Warum fragst du nicht, warum ich diesen Schwachsinn jahrelang ertragen habe? Ich bin nicht zynisch, nur entschlossen. Weißt du, was das heißt, Pastorchen? Ich hab auch nur ein Leben. Stell dir vor: Mit dem mach ich, was ich will.
Trotzdem noch ein Gespräch versuchen?
Mach dich nicht lächerlich. Was glaubst du denn, wie viele Stunden ich am Fenster auf diesen Nichtsnutz gewartet habe? Und wie viele Seiten meine dicke Chinakladde dabei ertragen musste? Aus und vorbei. Ich weiß, was ich zu tun habe.
Nicht alles wegschmeißen? Ich könnte es bereuen?
Was denn? Wo nichts ist, kann ich nichts wegschmeißen und da gibt’s auch nichts zu bereuen. Und komm mir nicht mit Gottvertrauen. Den geht das schon mal gar nichts an. Der soll sich raushalten aus meinem Leben. Okay?
Der wird die Sache schon in die richtige Bahn lenken, meinst du?
Ha! Ha! Du bist ja hartnäckig. Das sehe ich wie die Courage. ‚Der Mensch denkt: Gott lenkt.’ Doppelpunkt anstatt Komma zwischen ‚denkt’ und ‚Gott’. Selbst die Dinge in die Hand nehmen, denn von ‚Gott lenkt’ kann keine Rede sein, sagt sie, die weise Courage.
Nie gehört? Brecht kennst du nicht? Auch gut.
Bis der Tod …?
Das musste ja jetzt noch kommen, wusste ich es doch. Dein letzter Trumpf. Du ziehst aber auch alle Register. Mir ist schon klar, was du damit meinst. Ich weiß, was ich zu tun habe, bin frei wie ein Vogel.
Du wirst für mich beten?
Wohlmöglich sogar in der Kirche. Ich höre sie schon tuscheln.
Die kleine Holly aus dem Neubaugebiet wirst du vermissen?
Ach, du bist ja süß. Ich dich auch. Good bye, Meierchen. Mein Taxi steht vor der Tür. Bei Sonnenaufgang werde ich im Flieger sitzen, sieben Stunden später in der U-Bahn nach Upper Midtown Manhattan und zum Frühstück bei Starbucks auf der Second. 

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Montag, 23. Februar 2015

Missgeschick im Mittagstal



Heute wollen wir vom Grödnerjoch aus entlang des Sellamassivs oberhalb der Baumgrenze zum Wasserfall und durch das Mittagstal zurück wandern. Dazu nehmen wir nicht die Gondel, sondern laufen hoch zur Passhöhe. Der Weg führt zunächst gemächlich, später etwas steiler durch Wiese und Wald und gibt beim Blick zurück das ganze Panorama mit Passstraße und dem idyllisch eingebetteten Colfosco und dessen Hausberg Sassongher. Bevor wir uns auf der Terrasse des Restaurants „Frara“ auf der Passhöhe einen Cappuccino gönnen, haben wir den unvergleichlichen Langkofel fotografiert und uns bereits umgesehen, wo wir in unsere Route einsteigen können.
Der Wanderweg 666 beginnt unmittelbar hinter dem Restaurant „Frara“ oberhalb der Passstraße. Als harmloser schmaler Pfad schlängelt er sich hinauf und führt uns schnell auf eine Höhe, von der aus wir das ganze Panorama mit Cirjoch, der Dantercepies Bergstation, Jimmy Hütte, Almen mit Heustadeln, Passstraße und mitten darin unsere Cappuccinoterrasse vor Augen haben. Auf vielleicht halber Höhe des Sellamassivs gehen wir dann eine ganze Strecke weit ziemlich eben in  Richtung Colfosco und Corvara, umgeben von Bergblumen in Rot, Blau, Gelb und Weiß, links der Abgrund, mal steil mal sanfter, rechts der schroffe Fels des mächtigen Sella und inzwischen unter uns das liebliche Tal mit Colfosco und Sassongher.
Der Pfad wird schroffer und dann kommt die Stelle, an der wir den Wanderweg 666 verlassen und auf der 29 weiter wandern in Richtung Wasserfall. Der Blick zurück zeigt uns Passstraße, Almen und Cirspitzen unter felsigem Abgrund und der Blick nach vorne lässt Sassongher, Colfosco mit unserem Mesoles und Corvara näher rücken. Dann hören wir ihn schon, den Wasserfall, und sehen ihn auch bald. Oben rechts über ihm klebt eine ganze Kette von winzig kleinen Kletterern, die sich in Serpentinen den Felsen hinaufkämpfen zum See und zur Pisciaduhütte. Wir überqueren den vom Wasserfall gespeisten Bach, füllen unsere Trinkflaschen, suchen uns einen schönen Sitzfelsen und machen erst einmal Picknick.
Danach wird der Weg noch einmal richtig schön, rechts und links Bäume und ein Flickenteppich in Grün, Grau und Rot bis zum Schild, auf dem wir lesen, dass wir nach Colfosco noch eine Stunde und zehn Minuten zu wandern haben. So lange? Das kommt uns lang vor, zumal unser „Mesoles“ links unten zum Greifen nah scheint und vor uns bereits die gewaltige Felswand des Mittagstales aufragt. Wir steigen ein in den unteren Teil dieses berühmten Tales. Und der Abstieg hat es in sich. Wir befinden uns plötzlich in einem Labyrinth aus Felsen, in dem wir an manchen Stellen vergeblich nach Orientierung suchen. Entweder ist die Lücke zwischen den Brocken zu eng oder gar keine zu finden und in jedem Falle zu hoch und zu steil. Mit Suchen und Probieren kommen wir langsam tiefer. Es geht einigermaßen, bis mir ein Missgeschick passiert, das mir einen Moment lang den Schock in die Adern treibt. Die Sohle eines meiner Schuhe hat sich gelöst, hängt nur noch vorne am Zeh und klafft gefährlich auseinander. Ich schau zu Georg hinüber. Ihm steht der Schreck im Gesicht geschrieben. Ohne Sohle läuft in diesem schroffen Gelände gar nichts. Holt mich hier raus! Mit zitternden Händen binde ich mit dem Schnürband das Teil am Schuh fest und hoffe, dass es hält  und nicht an den scharfen Steinen durchscheuert. Weiter absteigen, es gibt ja keinen anderen Weg. Es scheint gut zu gehen. Ganz langsam kommen wir hinunter, bis zum nächsten Missgeschick. Der zweite Schuh macht dieselben Sohlensperenzchen.  Ich könnte schreien, doch Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Auch dieser Bösewicht wird in gleicher Weise mit dem Schnürband behandelt, das heißt, meine Schritte werden noch vorsichtiger. Konzentration pur ist angesagt. Und durchhalten, denn wir haben unser Ziel noch lange nicht erreicht, auch wenn wir es schon prima sehen können. Es geht noch ein gutes Stückchen steil abwärts. Wir kämpfen uns langsam hinunter und erreichen nach einer gefühlten Ewigkeit den sicheren Spazierweg, der uns nach einer erstmaltiefdurchatmen Bankpause zum unteren Teil des Wasserfalls führt, dem touristischen Bereich. Der ist schön präpariert, sodass ich es sogar wage, auf notdürftig festgebundenen Sohlen die paar Höhenmeter hochzusteigen. Schließlich gelangen wir quer über die Wiese und durch ein Wäldchen zur Herberge, auf deren Terrasse wir unseren Herrn Lanzinger mit der Geschichte erheitern und uns ein kühles Skiwasser genehmigen. Ja, das Mittagstal ist nicht einfach und sie müssten da mit den Wanderwegen viel mehr machen, meint er.

Text und Foto: (C) Renate Hupfeld 08/2013 


Mehr davon in: Sechs Wanderungen in den Dolomiten


Freitag, 20. Februar 2015

Rot oder Schwarz?




Der kleine Mann steht da, als schaute er von seinem Stern in eine andere Welt, wartet und ich bin mir gar nicht sicher, ob ich überhaupt was von ihm will. So drücke mich ein bisschen hinter meine Freundin und schau mal, was da kommt. Als Steffi ihn anredet, wird er ganz schnell aktiv, nimmt ein paar Skier aus dem Gestell, packt sie vor sie hin, nickt und redet kurz mit ihr. Dann geht er mit den Brettern zu einem Werktisch schraubt einen Ski fest, setzt einen Skischuh, den Steffi gerade ausgezogen hat, in die Bindung, schraubt ein bisschen, macht dasselbe mit dem anderen Ski und drückt ihr Skier und zwei Stöcke in die Hand. Flugs kommt er zu mir, fragt, wie ich Ski fahre, ich sage, gut, Gewicht 49 Kilogramm, Alter sweetsixty, aber danach fragt er nicht, packt sich ein paar Bretter, stellt sie vor mich hin, leicht, meint er und will einen Skischuh. Schnell ziehe ich den rechten aus, er nimmt ihn mit zum Werktisch, macht blitzschnell seine Schraubarbeit und flugs habe ich Skier und Stöcker in den Händen. Dann geht der Kleine an die Kasse hinter der Theke, redet kurz mit meiner Freundin, schreibt was auf und schon stehen wir draußen im Schnee.
"Was hast du dem kleinen Mann bezahlt?", frage ich, als wir mit Brettern unter dem Arm und Stöcken in der Hand die Straße lang zur Gondelstation wandern.
"Gar nichts, er wollte nur wissen, wo wir wohnen."
"Aha! Immerhin, also nicht vom anderen Stern, sondern souveräner Verleiher von Material an Skitouristen.”
“Wie bist du denn drauf?”
“Ach, vergiss es, ich bin ein bisschen durch den Wind heute.”
“Keine Panik. Wir lassen langsam gehen, ist ja der erste Tag, da müssen wir mal schauen, wie es läuft.”
Früher hätte ich das gesagt, um sie zu ermuntern, weil sie nie in die Gänge kam. Und jetzt? Ist das überhaupt noch mein Sport? Da stehen wir schon in der Schlange vor dem Ticketbüro, den Superdolomiti kaufen, Steffi den normalen, ich inzwischen den mit Seniorenrabatt, und dann geht’s hoch auf den Piz La Ila. Wenn ich mit diesen Dingern nicht klar komme, war’s das für mich mit Ski fahren. Meine uralten gelbschwarzen Atomic, seinerzeit das Non plus Ultra, verlässlich in jeder Piste, hab ich gar nicht erst mitgenommen, nachdem sie mich im vergangenen Jahr im Stich gelassen haben, zu lang, zu schwer, zu schwerfällig, vielleicht auch ich, doch egal.. Nix mehr für meine alten Beine. Wie ein Depp bin ich über die Pisten gehampelt. Und der Supergau war, als ich bei gut präparierter Piste und strahlendem Sonnenschein in der Saslong auf den Hintern gerutscht war, nicht mal ein Sturz, nur auf den Hintern gerutscht und nicht mehr hoch kam. Immer wieder sackte ich in den Schnee, es war wie verhext. Ein Mann half mir schließlich aus der Patsche, packte meinem Stock, zog mich hoch fragte mit besorgter Miene, ob alles okay wäre, ich sagte, das sei es und quälte mich Kurve für Kurve die schwarze Piste hinunter, die ich sonst immer forsch hinuntergesaust war.
Schweigend latschen wir mit Superdolomiti, gut in den Jackentaschen verstaut, zur nächsten Schlange, die an der Gondel. Es geht jedoch zügig weiter und irgendwann sitzen wir drin und ruckeln los. Steffi fragt erst gar nicht, was ich nun für ein Gefühl habe, hat sich ja auch mein Genöle lange genug angehört, mir dringend geraten, leichtere Bretter zu leihen, und will jetzt nur noch Ski fahren. Sie kommt schon seit mehreren Jahren mit Leihmaterial super zurecht. Still sitzt sie nun mir gegenüber in der Gondel und wir schauen hinunter auf die schwarze Siebzehn, als Weltcuppiste “Gran Risa” bekannt. Idyllisch am Hang etwas oberhalb vom Dorf liegt auch das schnuckelige Häuschen, in dem wir eine kleine Wohnung gemietet haben, direkt von der Schwarzen aus zu erreichen, für mich wohl utopisch heute.
Wir stehen im grellen Sonnenlicht, als wir oben das Liftgebäude verlassen. Bretter an einer flachen Stelle in den Schnee legen, Helm und Sonnenbrille richten, Handschuhe anziehen, Hände in die Stockschlaufen und Schuhe in die Bindung. Da geht’s schon los. Mit dem rechten Schuh geht das ganz gut, doch der Linke will einfach nicht einrasten. Ich versuche, versuche und beginne zu schwitzen, komme mir total blöde vor. Ein junger Mann will helfen. Wie peinlich! Was soll der von mir denken? Alte Dame sieht nicht ein, dass dieser Sport nichts mehr für sie ist, zum Beispiel. Ein beherzter Hackentritt bringt endlich das erlösende Klickgeräusch. Ich stehe auf den Skiern, Brille und Hände ordentlich gerichtet, könnte eigentlich loslegen, hab aber überhaupt kein Gefühl für Ski und Piste. Was ist nur aus mir geworden? Sonst immer die erste am Hang, keiner zu lang und keine Abfahrt zu steil. Und jetzt dieses Elend..
Steffi ist schon lange fix und fertig, wartet schon eine ganze Weile, schaut sich ab und zu nach mir um und bleibt geduldig stehen. Früher war sie es, die immer so einen Zirkus veranstaltet hat, bevor sie in die Gänge kam und jetzt gibt sie den Ton an. Unglaublich. Langsam setzt sie sich in Bewegung, mich wie einen lahmen Gaul hinter sich herziehend. Im flachen Gelände ein bisschen Schuss, ein bisschen steigen, ein bisschen Schrägfahrt bis zum nächsten Lift, das ist ein Vierersessel. Es ist aber so leer, dass wir einen für uns haben.
“Nun?”, fragt Steffi.
“Geht doch", antwortet sie selbst.
Sie soll mich ja nicht weiter löchern mit Fragen wie ich klar komme oder Ähnlichem. Es reicht. Und es ist doch beruhigend, dass unsere Bretter jetzt fein nebeneinander auf den Stegen liegen und gut aussehen, Steffis weiß mit rot meine schwarz mit neongelbem Streifen in der Mitte, vorne und hinten ziemlich breit, das heißt stark tailliert, Bindung in leuchtendem Hellgrün, irgendwie gutmütig sehen sie aus, ja, gutmütig, das sind sie eigentlich auch, wie der kleine Mann vom anderen Stern, der sie für mich herausgesucht hat. Ich hab zwar die Kante noch nicht gefunden, aber das geht nur auf schwierigeren Pisten. Wir fahren ja zurzeit nur die einfachen Touren im Skigebiet und ruhen uns in den Sesseln immer wieder aus.
Schließlich wagen wir uns über Cherz und Campolongo auf den Boé und nehmen die rote Eins nach Corvara. Ich nehme Fahrt auf, heize über Buckel und durch Verwehungen, nehme die Kurven so eng wie möglich, wie ich es früher immer gemacht habe, ja nicht die Hänge ausfahren, sondern immer entlang der Falllinie. Wie befreit sitze ich nachher im Sessel, der uns zur Col Alto Gondel bringt. Weiter geht es noch ein paar Sessel, bis wir dann wieder an der Liftstation des Piz La Ila stehen. Rot oder schwarz? Also rote Siebzehn, die unten im Ort ankommt  oder die schwarze, die Gran Risa. Rot bedeutet, mit Skiern auf dem Buckel den Hang hoch zum schnuckeligen Häuschen laufen, schwarz mit elegantem Einkehrschwung direkt bis vor das kleine Holzhüttchen am Haus, in das wir die Skier stellen können. Vor einigen Stunden hätte ich mir nur die rote Variante vorstellen können.
“Na, was meinst du, kleine Helene?", meint Steffi und guckt mich an wie ein geduldiges Schäfchen, das sie heute ja auch ist. “Vor einiger Zeit wäre das ja gar keine Frage gewesen. Schwarz hätte dich magisch angezogen."
“Und das ist nicht vorbei. Es gibt nix zu entscheiden. Der kleine Mann im Skiladen hat zwar nicht viel geredet, aber er hat mir zwei sympathische Geister geschenkt. Die werden mich die Gran Risa herunterbringen.”

“Dann fahr du vor”, meint Steffi. “Ich kenne dich doch. Wenn du erst einmal in Fahrt bist.”

(C) Renate Hupfeld 02/2015

Mehr Dolomitengeschichten in: Sechs Wanderungen in den Dolomiten


Sonntag, 18. Januar 2015

Therapeut



Lautlos ging sie zwischen Trümmern und Schutt. Es war sehr dunkel in dieser Nacht. Ein kleines, weißes Licht in der Ferne reichte jedoch, um zwei seltsame Gestalten zu erkennen. Eine dicke Frau saß auf einem Stein und glotzte in das Dunkel. Neben ihr lag ein erbärmlich aussehender Mann im Staub. Sie blieb bei dem Pärchen stehen, aber nur kurz, denn es zog sie weiter, dem weißen Licht entgegen. Je näher sie kam, desto größer wurde es. Sie erreichte einen Strand, an dem die Brandung leise rauschte. Das Gehen war anstrengend, denn bei jedem Schritt sank sie im weichen Sand ein.
„Hallo“, sagte ein winziges Stimmchen. Es gehörte zu einem Mädchen mit großen, traurigen Augen.
„Hallo, du kleines Wesen. Warum sitzt du hier so mutterseelenallein am Strand?“
„Ich warte. Und du? Bist du gekommen, um das böse Lächeln zu sehen?“
„Ich weiß nicht, warum ich hier bin.“
Da war das Kind plötzlich verschwunden. Aber das weiße Licht war jetzt ganz nah. Sie erschrak, als es mit einem Knall in flackernde Lichtstäbe zerfiel, die von  der Mitte her nach außen schwebten und sich in Schwerter verwandelten. Immer neue weiße Schwerter bewegten sich in dem dunklen Raum, blitzten in so schnellem Stakkato, dass ihr schwindlig wurde und sie ohnmächtig in den Sand fiel.

Als sie zu sich kam, spürte sie ein schweres Gewicht auf ihrer Brust. Sie versuchte es wegzudrücken und sich aufzurichten, aber vergeblich. Unter der riesigen Masse war sie nahe daran zu ersticken. Ein Tier schnupperte in ihrem Gesicht. Sie wollte schreien, aber kein Laut kam heraus. Als es mit seiner kalten, nassen Schnauze ihren Mund berührte, zuckte sie zurück. Mit starken Beinen drückte es ihre Schenkel auseinander, drang in sie ein und bewegte sich in ihr, hektisch atmend, so lange, bis es schwer auf ihr zusammensackte. Dann wälzte es sich herunter. Brechreiz stieg in ihr hoch, sie würgte.
„Mein Baby wacht auf.“ Da sprach ein Mann in dem ohrenbetäubendem Hämmern von Instrumenten und Wortfetzen. Im nächsten Moment wurde es still. Als sie sich aufrichtete, wurde ihr klar, dass sie in eine Falle geraten war.
„Du verdammtes Schwein“, schrie sie. „Was hast du mit mir gemacht?“
Splitternackt saß sie im Halbdunkel. Eine flackernde Kerze war die einzige Lichtquelle. Sie wollte weglaufen, fühlte sich aber zu schwach und fand nicht einmal mehr Worte. Auf dem Boden entdeckte sie ihre Jeans. Der fremde Mann ließ zu, dass sie sich anzog, was eine Weile dauerte, weil sie stark zitterte.
„Es war doch auch für dich schön.“
„Nein“, sagte sie. Das klang nicht so wütend, wie sie es eigentlich sagen wollte.
„Widerliches Subjekt.“
„Aber nicht doch.“
Breitbeinig stand er vor ihr, so dass sein Penis fast ihr Gesicht berührte. Sie drückte sich in das Rückenpolster und versuchte die Tränen zurückzuhalten. Dieses nackte Ungeheuer hatte sie auf diesem schäbigen Sofa vergewaltigt und sie wusste nicht einmal, wo sie war und wie sie hierher gekommen war.
Sie atmete auf, als er sich von ihr entfernte und sich in den Sessel neben dem Sofa setzte. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute er sie an, als erwartete er etwas von ihr. Ihr war übel und sie fühlte sich schwach, wohl im Gegensatz zu ihm. Er genoss sichtlich seinen Triumph.
„Du kennst mich, Linda.“
Woher wusste der Scheißtyp ihren Namen? Ihre Wut verwandelte sich langsam in Beklemmung. An was für ein Monster war sie nur geraten? Kannte sie diesen Mann? Sein Gesicht mit den  fleischigen Wangen und diesem verkniffenen Ausdruck in den Augen? Dieses Verschlagene, das man nicht knacken konnte? Das alles kam ihr bekannt vor, aber ihr fiel keine Person dazu ein. Offensichtlich wusste er einiges über sie. Hatte sie mit ihm zu tun gehabt? Wenn überhaupt, dann in der Klapse. Mein Gott, wie viele Figuren hatte sie da schon vor sich sitzen gehabt?
„Michi sagten meine Freunde, du sagtest Michael.“
Sein triumphierender Blick gepaart mit ihrer eigenen Ohnmacht machte sie fast wahnsinnig.
„Immer noch keine Erinnerung?“, fuhr er fort und weidete sich an ihrer Ungewissheit  „An deiner Stelle würde ich mich auch nicht gerne erinnern. Überleg doch mal. Wer ist Michi?“
Er wartete eine Weile.
„Na, ich helfe dir.“
Ihre Schwäche wich langsam der Einsicht, dass sie sich irgendwie aus dieser bizarren Situation befreien musste. Bevor ihr etwas dazu einfiel, redete er auch schon weiter.
„Es war einmal ein kleiner Junge“, begann er. „Der hatte jeden Tag einen kleinen Steifen in der Hose. Schau, so.“ Dabei nahm er sein Glied zwischen die Hände und rieb daran, bis es steif zwischen seinen Beinen stand.  
Linda blickte demonstrativ gelangweilt.
„Diesen kleinen Steifen drückte der Junge mehrmals täglich seiner viel jüngeren Schwester zwischen die Beine.“
Er schaute erwartungsvoll, ob sie sich nun wohl erinnerte. Sie ahnte etwas, aber ihr fehlten immer noch die Worte.
„Penetrieren nanntest du das und wolltest es immer wieder hören, wie die Kleine schrie beim Penetrieren und wie meine Mutter währenddessen nebenan auf dem Sofa vor dem Fernseher lag und nichts merkte, weil sie glaubte, wir hätten einen Streit unter Kindern. Immer wieder musste ich dir erzählen, wie ich penetrierte, wie meine kleine Schwester schrie und wie meine Mutter nichts merkte, immer wieder.“
Penetrieren. Da sah sie ihn plötzlich, diesen linkischen Jungen. Vierzehn war er gewesen, zehn Jahre musste das jetzt her sein. Und seine Schwester, erst vier Jahre alt, klein und verängstigt in die Sofaecke gedrückt. Daneben die fette Mutter, die nichts geblickt und sich nie gewehrt hatte, wenn die Freier ihre perversen Gelüste an ihr auslebten.
Ein Kotzbrocken war er damals schon gewesen, unterschwellig aggressiv und unattraktiv, Hängebacke hatte sie ihn insgeheim genannt. Sie hatte nicht an eine Besserung seines Verhaltens geglaubt und dafür gesorgt, dass er in den Jugendknast kam. Und jetzt trieb er weiter sein Unwesen, nichts gelernt hatte er.
Seine Aggressionen waren nicht zu unterschätzen. Ja nicht zu sehr reizen, dachte sie. Wenn man etwas Unangemessenes tat, wurden diese Leute unberechenbar. Hatte sie doch genug Ausraster erlebt in all den Jahren. Klar hatte sie auch Fehler gemacht, aber es war ihre Stärke, in prekären Situationen den Überblick zu behalten. Die Opferrolle war ihr fremd. Und jetzt saß sie hier, gefangen in einem dunklen Raum und hoffte, dass die Kerzenflamme nicht erstickte.
„Du konntest gar nicht genug davon kriegen. Wenn ich erzählte, hattest du ein Lächeln im Gesicht und deine blauen Augen leuchteten …“
„Ja, ich erinnere mich“, unterbrach sie ihn. „Du kamst in den Jugendknast. Und wie ging es danach weiter?“
 „Entlassen wegen guter Führung, schon nach einem halben Jahr.“
Typisch für einen wie diesen. Heuchler!
„Und nach dem Knast?“, fragte sie.
„Habe ich einen Aushilfsjob bei der Stadtgärtnerei gefunden. Den mache ich immer noch und halte mich damit über Wasser. Übrigens wohne ich in der Nähe vom Havana, wenn dir das was sagt.“
Ihr Stammlokal. Was wusste der denn noch alles?
„Und wie …?“
„Wie du hierher gekommen bist? Ganz einfach. Wir sind zusammen hierher gegangen.“
„Das kann nicht sein.“
„Wir saßen nebeneinander an der Bar im Havana. Du hast mich nicht gesehen, konntest deine Augen nicht lösen von dem großen Foto an der Wand. Hemingway, scheint dir zu gefallen, der Mann.“
„Aber …“
„… dann gingst du auf die Toilette und dein Chianti stand ganz allein neben meinem Bier. Und da konnte ich in aller Ruhe mit einer sehr wirkungsvollen Substanz deiner Stimmung ein wenig auf die Sprünge helfen.“
Wie billig! Dieser Verbrecher! Wie konnte ihr das nur passieren? Es fiel ihr schwer sich zu beherrschen. Aber sie durfte jetzt keinen Fehler machen, ja keinen Ausraster provozieren.
„Und weiter?“
„Als du deinen Chianti getrunken hattest, warst so wacklig auf den Beinen, dass du nur mit meiner Hilfe das Lokal verlassen konntest. Nun, gottlob hatten wir es nicht weit. Ja, das hättest du auch nicht vermutet, dass ich in der Nähe des Havana wohne.“
„Nein, wirklich nicht.“
Schön ruhig bleiben, dachte sie.
„Und das andere weißt du ja selber. Hier haben wir es uns dann gemütlich gemacht. Und dir hat es auch richtig Spaß gemacht, schön gestöhnt hast du unter mir.“
„Hör auf, du hässlicher Gnom.“ Sie sprang auf und wollte einen Lichtschalter suchen.
„Wo ist meine Jacke?“
Er packte sie an den Armen und drückte sie zurück in das Sofa.
„Schatz, wir wollen doch mitten in der Nacht nicht mehr ausgehen.“
„Mein Handy.“
„Brauchst du alles nicht. Lehne dich ganz entspannt zurück, die Sitzung ist noch nicht beendet. Dein Therapeut hat gute Medizin für dich vorbereitet. Chianti, heute mal mit Schuss.“

Ganz nah war das weiße Licht. Mit einem Knall zerfiel es in flackernde Lichtstäbe, die von  der Mitte her nach außen schwebten und sich allmählich in Schwerter verwandelten. Immer neue weiße Schwerter bewegten sich im dunklen Raum, blitzten in schnellem Stakkato. DU KANNST SIE RETTEN stand plötzlich in riesigen Buchstaben am Himmel.
 „Hast du das böse Lächeln gesehen?“, fragte das winzige Stimmchen.
 „Wir werden es töten und die traurige Stadt erlösen“, sagte Linda, nahm die Kleine an die Hand und ging mit ihr zusammen fort.


©Renate Hupfeld 07/2005

... in : 
"Zwischen Himmel und Erde - Mystery Geschichten" 
Hrsg. Andreas Schröter
www.schreib-lust.de
Erste Auflage 2005


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