Samstag, 21. Dezember 2013

Folgt dem Stern


Vor mehr als zweitausend Jahren herrschte Kaiser Augustus in Palästina. Eines Tages befahl er, dass sein Volk gezählt würde. Alle Einwohner des Landes mussten in die Stadt kommen, in der sie geboren waren.
Auch ein Mann namens Josef folgte diesem Befehl des Kaisers. Zusammen mit seiner Frau Maria, die hochschwanger war, wanderte er den langen Weg von Nazareth nach Bethlehem.
Als die beiden dort angekommen waren, kündigte sich die Geburt an. Sie suchten eine Herberge. Nichts zu machen. In Betlehem gab es kein freies Zimmer. Endlich fanden sie Schutz in einem Stall bei den Tieren.
In dieser Nacht brachte Maria einen prächtigen Jungen zur Welt. Vater und Mutter wickelten das Kind in Windeln, legten es in eine Futterkrippe und deckten es warm zu.
Genau zu der Zeit waren Hirten bei ihren Tieren auf dem Feld, als plötzlich ein ganz helles Licht am Himmel aufleuchtete. Die Männer bekamen große Angst und hätten sich am liebsten versteckt. Doch wo? Da war keine Hütte, nicht einmal ein Strauch, nichts, nur Feld.
„Fürchtet euch nicht“, sagte eine Stimme.
Sie schauten hoch. Am Nachthimmel schwebte plötzlich eine seltsame Erscheinung.
„Ich verkündige euch eine große Freude. Ganz in der Nähe wurde heute Nacht ein Kind geboren, ein besonderes Kind. Es wird euch befreien von allem Übel und Frieden bringen.“
Dann war alles wie vorher.
„Was war das?“, fragte einer.
„Ein Engel war das. Irgendwas Außergewöhnliches muss passiert sein. Schaut dort der Stern“, sagte Johannes, der Älteste der Hirtengruppe.
„Vorhin war der noch nicht da.“
„Stimmt. Über Betlehem steht er.“
„Lass uns hingehen und schauen, was es mit dem Versprechen des Engels auf sich hat.“
„Was könnten wir besser gebrauchen als Freude und Frieden?“
„Kommt Leute, wir wandern zu dem Stern“, sagte Johannes.
Da machten sich die fünf Hirten auf den Weg. Johannes ging voran. Der Stern stand über einem Stall auf einer Wiese. Vorsichtig öffneten sie die schwere Holztür und tatsächlich. Dort lag das kräftige Neugeborene in einer Krippe, rechts und links die glücklichen Eltern. Ein Bild der Freude und des Friedens. Hatte der Engel doch Recht gehabt.
„Wir kommen, um eurem Kinde unsere guten Wünsche zu bringen. Es steht unter einem ganz besonderen Stern. Dürfen wir es anschauen?“ fragte Johannes.
Die Eltern nickten und die Männer gingen zur Krippe. Sie konnten gar nicht aufhören den Kleinen anzusehen.
„Wirklich, ein ganz besonderes Kind. Es ist, als ginge ein Leuchten von seinem Gesicht aus.“
 Voller Stolz schaute der Vater auf seinen Sohn und die Mutter lächelte glücklich.
„Er wird uns allen große Freude und Frieden bringen, so wurde uns versprochen.“
Nachdem die Hirten das Kind lange genug betrachtet hatten, legte jeder von dem wenigen, das er besaß, ein kleines Geschenk neben die Krippe, ein Halstuch, ein Stückchen Brot, eine Mütze, einen kleinen Krug mit Wein und Johannes legte seinen Hirtenstab dazu. Dann gingen sie hinaus in die Nacht. 


Mittwoch, 30. Oktober 2013

Grablichterblues


Auf dem Weg über den Parkplatz flatterten mir die Blätter um die Beine, schön bunt, doch gar nicht lustig, verbesserten meine Laune keinesfalls. Die war nämlich grauer als grau. Dunkelstgrau. Der Blues. Ja, das war er, ließ sich nicht abschütteln. Andere hatten wenigstens um diese Jahreszeit einen Dämon, ich hatte nur diesen Blues in allen möglichen Facetten, musste jetzt womöglich wieder wochenlang mit ihm herumlaufen, mal dem Wetter-Geht-Mir-Auf-Den-Keks-Blues, dann dem Ist-alles-nicht-mehr-wie-früher-Blues und eben in diesem Moment mit dem Erinnere-mich-nicht-an-den-Tanz-Blues. Niemandem hatte ich die Gruselstory erzählt, mir würde sie ohnehin niemand glauben. Wie ich nur so dusselig sein konnte und dieser Ausgeburt von Raffinesse auf den Leim gehen, der Frau, die überhaupt nicht tanzen konnte und wie ein hölzernes Gerät über die Fläche geschoben, gezogen und gezerrt werden musste, selbst beim allereinfachsten Blues. Dieses Tanzgerät entpuppte sich als hinterlistiges Miststück, wollte mir weismachen, mich aus einem früheren Leben zu kennen, erzählte mir was von einem weißen Schimmel, den ich abends unter einer Weide am Fluss abgeholt hätte und auf dem ich fortgeritten wäre und behauptete, am Ende der Straße zu wohnen. Dort war jedoch kein Haus, wie ich eigentlich hätte wissen müssen, ich Depp. Und mir war es noch immer ein Rätsel, mit welchen Mitteln sie es geschafft hatte, mich an der Nase herumzuführen. Also, am Ende der Straße war nämlich der Friedhof. Dahin hatte sie mich gelockt, mitten in der Nacht. Naiv, wie ich war, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, auf das Gräberfeld zu schleichen, natürlich bei Vollmond, versteht sich. Über der Leichenhalle stand der und warf einen riesigen Schatten auf den Weg zwischen den Bäumen. Und da! Ich traute meinen Augen nicht. Vor dem Portal wartete schon ebendiese Bluestanzfrau auf mich, fixierte mich mit saugendem blauem Blick und schwebte auf mich zu. Wahnsinnig verlockend sah sie aus in dem sachte wehenden, silbrigglänzenden Gewand. Ihr Lächeln war hinreißend.
„Da bist du ja endlich“, flüsterte sie. „Wie ich mich nach dir gesehnt habe!“
Ein kalter Hauch berührte mich, als sie die Hände nach mir ausstreckte.
„Warum bist du hier?“, stotterte ich.
„Deinetwegen.“
Ich verstand nichts mehr.
„Von weit her bin ich gekommen.“
„Aber wir haben doch gerade erst miteinander ...“
„Ja, ja“, hauchte sie. „Es war so schön.“
„Ich verstehe nicht.“
„Lass uns fliegen.“
„Wie das denn?“
Mir wurde schwummerig. Wäre ich doch niemals hierher gekommen, auf diesen Gottesacker!
„Fliegen. Nur wir zwei“, fuhr sie fort.
„Du bist doch tot, sonst könntest du nicht … sonst wärest du nicht hier.“
Oder doch? Mich schauderte. Ich wollte weglaufen, kam aber nicht von der Stelle.
„Ich sehne mich nach deiner Wärme.“
Ganz leise war ihre Stimme.
„Umarme mich.“
Ich ging einen Schritt zurück.
„Drück mich an deinen Körper, bitte“, flehte sie und kam näher.
„Ich kann nicht.“
„Doch, du kannst.“
„Lass mich gehen!“, wehrte ich ab.
„Warum willst du vor mir fliehen?“
„Ich bin noch nicht so weit.“
„Begreife doch, mein Liebling.“
„Was soll ich begreifen?“
„Ich will dich nicht hinüberziehen. Du kommst freiwillig.“
„Nein, es geht nicht.“
„Wir werden glücklich sein.“
„Nein!“
„Lieben will ich dich, damit du nicht mehr traurig bist.“
„Was meinst du?“
„Nur ab und zu. Dann bin ich auch nicht mehr traurig.“
„Nein, nein. Ich muss jetzt gehen.“
Ich tastete mich rückwärts. Voller Sehnsucht sah sie mich an, folgte mir mit ausgestreckten Armen und ihrem unwiderstehlichen Lächeln. Je schneller ich mich fortbewegte, desto näher kam sie. Ich wagte nicht, mich wegzudrehen und ging Schritt für Schritt weiter, so schnell ich konnte, bis mein pochender Schädel an etwas Hartes stieß.
Das Friedhofstor.
Das verdammte Weib aus jener Sommernacht verfolgt mich doch noch immer, dachte ich.
Dabei kannte ich die Bluestanzfrau inzwischen ganz anders. Vom Esoteriktrip hatte ich sie heruntergeholt und sie hatte mir beigebracht, wie ich auch mit einer unbegabten Tänzerin Blues tanzen konnte.
Ich ging durch die Blätterallee, den Weg zwischen den Gräberreihen, den meine Beine schon fast automatisch machten, mit oder ohne die gelbe Gießkanne, denn gelb mochte sie, die üblichen grünen lehnte sie ab. Heute bei dem useligen Wetter also ohne Gießkanne. Am Wasserbecken vorbei nach links, drei Gräber weiter, dann wieder nach links zum weißen Marmorgrabstein mit dem Bild, oval gerahmt, wie sie es gewünscht hatte, nach ihren Vorgaben über dem dunkelgrauen Schriftzug platziert. Ja, die weißhaarige Frau da auf dem Foto war sie, wie sie leibte und lebte, hatte ja nur noch mich, ihren Augenstern, so nannte sie mich oft, das Beste, was ihr in ihrem Leben passieren konnte, das Allerbeste, ihr Eins und Alles. Ihr Lächeln sollte mir erhalten bleiben, ein Lächeln, das nie vergehen würde. Nur für mich. Unwiderstehlich.
„Wie läufst du denn wieder herum, Junge? Ohne Jacke. Du wirst dich erkälten. Zieh dich beim nächsten Mal warm an. Denk auch an den Schal. Du weißt doch, die kalte Jahreszeit hat’s in sich.“
„Ja, Mama.“
„Und deine Haare. Wie das aussieht! Geh mal wieder zum Frisör.“
„Jaha.“
„Gegessen hast du auch noch nichts. Ich sehe es dir doch an. Wie oft muss ich dir das noch sagen? Du treibst Raubbau mit deiner Gesundheit. Kein Gramm zugenommen hast du seit dem letzten Mal, eher sogar abgenommen, so blass, wie du wieder bist. Wann wirst du endlich erwachsen?“
Ich hatte ausgiebig gefrühstückt, mit Lachs, Käse, Schinken, Gürkchen, Tomaten, Radieschen und einem traumhaften Müsli. Nicht allein. Und das würde ich jetzt immer so machen. Immer so, wie ich das wollte. Genau so. Doch das musste ich ihr ja nicht erzählen.
„Schau, Mama, heute zünde ich drei Kerzen für dich an, damit du dich freust, okay?“
Sie blieb stumm.
„Dann bis zum nächsten Mal, Mama.“
Auf dem Weg zum Auto wurde der Grablichterblues in meinem Kopf immer leiser, bis er gar nicht mehr zu hören war.

Text und Foto © Renate Hupfeld

Kurzgeschichte aus dem E-Book: Hammfiction


Freitag, 25. Oktober 2013

Trollbusters


Auf der dicken Fußmatte klopfte ich mir den Schnee von den Schuhen, bevor ich hineinging. Angenehm, die warme Luft in dem kleinen Raum. Weniger angenehm, dass ich im selben Moment nichts mehr sah. Brille abnehmen, nach einem Taschentuch nesteln und kein sauberes finden, immer das Gleiche bei dem Wetter. Tastend ging ich die paar Schritte zur Theke. 
„Mann, Kläusken, da bisse ja mal wieder.“
Ich setzte die Brille auf, rückte sie mir aber gleich auf die Nase und schaute über den Rand.
„Siggi, alter Kumpel. Ein Mist ist das, wenn man halbblind ist.“
„Wat musse viel sehen? Hier sitzen doch nur die, die hier immer sitzen. Komm, trink einen mit.“
Er schob mir einen Barhocker unter den Hintern.
„Jimmy, mach noch mal zwei, Kläusken wird wohl auch Durst haben.“
Der Wirt nahm das leere Glas und stellte zwei neue unter den Zapfhahn.
„Na, wat gibt et Neues?“
„Zwanzig Jahre Psychiatrie. Da bist du versaut, sag ich dir.“
„Versaut?“
„Ja, für jede normale Kommunikation.“
„Wie meinze dat denn jetz?“
„Ganz einfach. Nichts ist mehr normal. Überall siehst du Gespenster.“
„Dat passiert schon mal. Muss ich dat verstehen?“
„Ich bin da doch in einer Gruppe.“
„Ach, deswegen bisse nicht mehr so oft hier inne Kneipe.“
„Nein, nein, das hat einen anderen Grund.“
„Welchen denn?“
„Ich hatte oft Nachtdienst in der letzten Zeit. Die öffentlichen Kassen sind leer und es wird immer enger mit Personal.“
„Ja, ja, die Klapse wird auch immer voller. Kuckse dir doch an überall. Dat hälze doch im Kopp nich aus. Unsereiner is am Malochen und die lungern inne Sitti rum. Wo dat noch hinführn soll.“
„Überall wird gespart, du kennst das ja auch.“
„Sach ich doch. Bei uns isset nich anders. Immer mehr Grünanlagen, aber nich mehr Leute. Immer dat Gleiche. Welche Gruppe meinze denn?“
„Gruppe? Ach so! Hab ich dir doch mal erzählt, die im Internet.“
„Mit diese Hobbyschreiber?“
„So nenn ich die zwar nicht, aber genau die meine ich.“
„Da bisse doch schon ganz lange.“
„Einige Jahre.“
„Und wat is da so Versautes jetz?“
„Die Kommunikation. Völlig aus dem Ruder gelaufen.“
„Aha.“
„Aber das verstehst du sowieso nicht. Musst du auch nicht.“
„Meinze, nur weil ich nich son studierter Heini bin wie du?“
„Ach komm, lass stecken.“
„Nee, nee, Klaus, lass ich nich stecken.“ Er drückte mir das nasse Glas in die Hand. „Hier, sauf dein Bier, dat hat noch keinem geschadet. Auf unsere, wie sagst du so schön?“
„Kommunikation.“
„Genau. Prösterchen. Jetz musse mir nur noch erzählen, wat versaut is, dann bin ich schon ruhich.“
„Eigentlich ist nur einer versaut.“
„Wer is dat?“
„Der Troll.“
„Troll?“
„Kennst du nicht, was?“
„Doch, der steht bei uns im Badezimmer, splitternackt, lange grüne Stehhaare und grinst mich immer an, wenn ich untere Dusche stehe.“
„Scherzkeks.“
„Kein Scherzkeks. Als der Kleine noch klein war, hat er ihn immer mit inne Badewanne genommen, gewaschen, gekämmt und gestreichelt. Jetz steht er immer noch aufem Wannenrand, Perlenkette in blaugelb ummen Hals.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Doch den meinze nich, wat?“
„Ich befürchte fast, du verstehst das gar nicht“, sagte ich.
„Jetz hasse mich neugierig gemacht. Also los.“
„Wenn du deinem Troll noch richtig dick Glibber in seine grünen Haare schmierst, kommen wir der Sache schon ein wenig näher.“
„Aaaah, so is dat.“
„Wie soll ich dir das erklären? Der grüne Glibber ist nur symbolisch gemeint.“
„So, so.“
„Der Troll, den ich meine, den gibt’s eigentlich gar nicht“, fuhr ich fort. „Und schon gar nicht im Badezimmer. Da würde ich ihn nämlich ins Klo schmeißen und so lange die Spülung drücken, bis er mit seinem grünen Glibber weggegurgelt ist.“
„Kuck, so.“ Er trank sein Glas leer.
„Na, so ähnlich. Nimmst du noch eins?“, fragte ich.
„Klar, Mann.“
Ich stellte dem Wirt die leeren Gläser hin und gab ihm ein Zeichen.
„Von Gespenster hasse vorhin gesprochen“, sagte Siggi.
„Fiese Gespenster, ganz fies. Der Troll, von dem ich rede, ist ein Störenfried. Er beschimpft die Leute auf das Übelste und zieht alle und alles in den Dreck. Mir wird schlecht, wenn ich nur an die Gülle denke, die der verbreitet. Der hat nur eins im Sinn.“
„Und wat?“
„Unfrieden stiften. Man ärgert sich, will ihn wegkicken, kriegt ihn aber nicht zu fassen.“
„Und wieso nich?“
„Weil er unsichtbar ist, Mann.“
„Und was rechste dich dann auf?“
„Ach, es hat keinen Zweck. Warum hab ich mit diesem Scheißthema überhaupt angefangen?“
„Weil de dich geärgert has.“
„Und ich ärgere mich immer noch. Was machst du mit einem unsichtbaren Querschläger? Und das auch noch im Internet?“
„Mit Internet und son Kram hab ich nix am Hut. Da fällt mir auch gar nix zu ein.“
„Sag ich doch.“
Ich schob ihm das frische Bier hin. „Prost dann. Und lassen wir das Thema.“
„Hach, dat schmeckt doch, musse zugeben.“
Ich schwieg.
„Wat starrste so vor dich hin? Is wat mit’m Bier?“
„Nein, nein, das Bier ist in Ordnung. Ich frage mich mich nur, was jemanden dazu bringt, andere in den Dreck zu ziehen. Was will der damit erreichen?“
„Du, et gibt Leute, denen geht’s nur gut, wennse andern eins auswischen können. Die wollen, dat es andern schlecht geht.“
„Meinst du?“
„Mein ich. Die änderste nich. Eher ärgerste dich kaputt. Und eins kannze ganz sicher sein: Wer so wat macht, is’n feiges Arschloch.“
Ich prustete los.
„Is doch wahr“, prustete er mit. „Ich sach, wie et is. Wat machset dir auch immer so schwer? Bleib da wech und komm wieder öfter hier annen Tresen. Da fällt uns dann schon wat ein.“
„Wegbleiben kann ich mir nicht vorstellen, schon allein wegen meiner Freunde in der Gruppe“, sagte ich. „Aber gerade ist mir schon was eingefallen.“
„Na siehse. Am Tresen kommen einem immer die besten Gedanken. Sach wat.“
„Ich werde den Mist, den dieses feige Arschloch verbreitet, gar nicht mehr lesen. Da komm ich lieber auf ein Bier in die Kneipe. Das bringt mir keinen Ärger und hebt die Laune enorm.“
„Mein ich doch.“
„Mir ist jetzt richtig warm geworden, Siggi. Doch ich muss los, wieder hinaus in die Kälte. Die Pflicht ruft. War schön mit dir, du altes Haus. Danke und bis demnächst dann.“
Ich schob den Barhocker unter den Tresen und rückte die Brille zurecht. Endlich wieder klar sehen.
„Jau, Kläusken, bis die Tage. Und eins lass dir auch noch gesacht sein. Von wegen versaut. Wer so wat nötig hat, der is ne ganz arme Sau.“

Text und Foto © Renate Hupfeld

Kurzgeschichte aus dem E-Book: Hammfiction


Donnerstag, 17. Oktober 2013

Wie die High Heels ihren großen Auftritt verpassten


Facebook scheint zu wissen, dass ich ein Faible für Schuhe habe. Wenn ich die Seite öffne, bekomme ich die übliche Reihe Werbebuttons. Schuhe sind immer dabei. Alle anderen nerven mich tierisch, nicht so die für Schuhe. Da muss ich immer hinschauen, hin und wieder die Label anklicken, die Teile von allen Seiten betrachten und auch mal zulangen.
Vor ein paar Tagen war da plötzlich ein Exemplar, dessen Button ich gar nicht wieder schließen wollte. Bild von einer High Heel Stiefelette. Nicht irgendeine, nein, die schönste der Welt, schwarzes Wildleder, weinrotes Futter, Zierkettchen und Pfennigabsatz in zehn Zentimeter Höhe. Ich klickte zum Shop und betrachtete die Schöne von allen Seiten. Selbst die Sohle in glänzendem Weinrot war einzigartig. In Seitenansicht herangezoomt. Himmlisch. Es gab auch schon hunderteins Kundenmeinungen mit unzähligen Sternen. Daran konnte ich mich gar nicht satt lesen. Immer wieder scrollte ich die Kommentare durch. Zauberhafter Schuh. Angenehm zu tragen. Sehr bequem. Drückt nicht. Echter Hingucker. Alles in allem hätte man in dieser Stiefelette einen Super Auftritt, schrieb eine Kundin. Meine Größe war sogar lieferbar. Ein Wunder bei meinen kleinen Füßen. Meistens war Größe sechsunddreißig ausverkauft. Es gab nichts mehr zu überlegen, zumal der Preis okay war und kostenloser Versand und Rückversand zugesichert wurden. Also machte ich mit ein paar Klicks den Kauf klar.
Mir blieb fast der Atem weg, als ich einige Tage später die Teile aus dem eleganten Karton hob und das schwarze Seidenpapier vorsichtig abwickelte. Die High Heel Stiefeletten in meinen Händen waren weit schöner als auf dem Bild. Und wie sie sich anfühlten! Sofort anprobieren. Was für ein Feeling von Eleganz und zudem plötzlich zehn Zentimeter größer zu sein. Ein paar Schritte auf dem Teppich gingen schon ganz gut. Besser noch nicht auf den Kacheln, man weiß ja nie. Nun, das Laufen würde ich noch üben. Erst mal gucken, wie sie überhaupt aussahen an mir. Ich trippelte zum großen Spiegel im Flur und stellte mich auf die erste Treppenstufe, damit ich mich von unten bis oben betrachten konnte. SweetSixty in naturgrau mit endlos langen Beinen in knallengen Jeans und diesen einzigartigen High Heels. Hinreißend. Keine Frage. Ich würde sie behalten.
Nun, zum Spazierengehen und Shoppen waren sie nicht so gut geeignet. Ihren ersten großen Auftritt sollten sie beim Geburtstag meiner Schwiegermutter bekommen, und zwar abends im Restaurant, wenn wir ein paar Straßen weiter mit der ganzen Familie zum Abendessen einkehren würden. Da müsste ich nicht allzu weit laufen. Und das Gehen hatte ich schon geübt, indem ich sie zwischendurch immer mal getragen hatte, für die kurzen Wege zur Mülltonne, zum Papiercontainer oder gelben Sack. Die Feier begann am späten Vormittag mit einem Sektempfang im schwiegermütterlichen Wohnzimmer. Den absolvierte ich in halbhohen Pumps, die sahen auch elegant aus und waren bequemer beim Versorgen der älteren Damen mit Sekt, Orangensaft und Schnittchen. Dabei half mir unsere Dreizehnjährige, an deren langen glänzenden Haaren das Seniorinnengrüppchen ihre wahre Freude hatte. Das waren Zeiten damals beim Arbeitsdienst. Da mussten sie schon mit dreizehn fort von zu Hause und richtig arbeiten auf dem Bauernhof oder in der Mühle. Smalltalk.
Plötzlich merkte ich, dass sich in meinem Kopf etwas zusammenbraute. Kopfschmerzen und das an diesem Tag. Der erste Auftritt meiner High Heels mit Kopfschmerzen? Unvorstellbar. Zunächst wollte ich den Schmerz ignorieren. Ging nicht. Meistens half da Kaffee. Eine große Tasse, doppelte Stärke, zog ich mir aus dem Automaten in der Küche und schlürfte das schwarze Zeug in der Hoffnung auf Besserung. Es half jedoch nicht, im Gegenteil. Es wurde immer schlimmer. Dazu die Übelkeit. Unbemerkt schlüpfte ich in den Flur, schlich die Treppe hoch und war heilfroh, als ich dem Schwindel entflohen war und auf dem Bett lag. Mein Kopf drohte zu zerspringen, ich fühlte mich nur noch mies und konnte nichts tun, gar nichts. So bald ich mich bewegte, wurde es noch schlimmer. Was war nur mit mir los? Nicht einmal die doppelte Dröhnung Kaffee hatte geholfen. Da standen meine High Heels mit Zierkettchen in voller Schönheit neben dem Koffer, bereit zum Auftritt. Wer hätte gestern gedacht, wie gleichgültig sie mir heute waren? Nichts mehr fand ich zauberhaft an ihnen. Affe. Ja, das war ein Affe. Genau so hatte mir mal ein Junkie den Zustand geschildert. Kalter Entzug. Nur, dass dem Affen ein Rausch vorangegangen war. Wo war denn mein Rausch? Da war keiner. Wovon denn? Kaffee hatte ich getrunken, nichts als Kaffee.
Die Mitglieder der Geburtstagsfamily standen abwechselnd vor meinem Bett und versorgten mich mit Tee und einer Aspirin. Schmerztabletten hätten Sabine und Paul auch geholfen, denn die hätten ebenfalls Kopfschmerzen gehabt. So, so, die beiden also auch. Doch einen Affen hatte wohl nur ich. Nein, nein, Aspirin ging gar nicht. Die würde mein Magen zusammen mit dem Kaffee sofort wieder rausschleudern, das kannte ich schon. Für mich war der Geburtstag gelaufen. Das tat mir echt leid für meine Schwiegermutter, aber mein Körper spielte nicht mit. Ja, ich hatte mir das alles anders vorgestellt. Bye, bye High Heels.
Nach einer Mütze Schlaf war am nächsten Morgen der Affe verschwunden, die schwarzen Schönheiten im Koffer verstaut und ich hockte am Frühstückstisch vor meinem Kaffeepott. Schwiegermutter saß vor Kopf. Im Gegensatz zu mir hatte sie mit ihren Fünfundachtzig das Event unbeschadet überstanden. Den Blutdruck hätte sie auch im Griff, seitdem es bei ihr nur noch koffeinfreien Kaffee gäbe. Ja, ja, auch aus dem Kaffeeautomaten, was anderes hätte sie gar nicht mehr im Haus. Ja-nee-is-klar.


(C) Renate Hupfeld 10/2013

Text und Foto: © Renate Hupfeld

33 Kurzgeschichten - Taschenbuch und E-Book: Wenn wir von Liebe reden